Franz Rehbein, „Im Sachsengängerzuge“ (1911)

Kurzbeschreibung

Franz Rehbein (1867-1909) stammte aus armen Verhältnissen und musste bereits früh als Saisonarbeiter („Sachsengänger“) zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Nachdem er bei einem Unfall einen Arm verlor und nicht mehr in der Landwirtschaft arbeiten konnte, begann er sich für die Sozialdemokratie zu engagieren. Er schrieb über das Leben der Landarbeiter und arbeitete u.a. für die sozialdemokratische Zeitung Vorwärts. Dieser Textauszug stammt aus seiner Autobiografie, die zwei Jahre nach seinem Tod veröffentlicht wurde.

Quelle

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Um die Osterzeit, kurz nach meiner Schulentlassung, bereiste ein Agent aus Köslin [Landkreis in Ostpreußen, jetzt Polen] die Gegend, um „Landarbeiter nach Sachsen“ anzuwerben.

Alles konnte der Mann gebrauchen: Männer und Frauen, Mädchen und Jungens. Schon einige Jahre vorher hatte er mit einem gewissen Dorfschnitter Höhnke zusammen sowohl aus der Stadt wie aus den umliegenden Dörfern ganze Trupps von Landarbeitern angeworben, die vom Frühjahr bis zum Spätherbst kontraktlich zur Arbeit auf den Zuckerfabriken der Magdeburger und Braunschweiger Gegend oder auf verschiedenen Gütern von Hannover, Oldenburg und Schleswig-Holstein verpflichtet worden waren. Meistenteils waren diese Arbeiter zum Winter wieder nach der Heimat zurückgekehrt.

Der Agent verstand es ausgezeichnet, den Leuten den Mund wässerig zu machen. Nach seinen Darstellungen war „Sachsen“ einfach das gelobte Land, wo Milch und Honig floss. Er hatte mit seinen Anpreisungen auch verhältnismäßig leichtes Spiel, denn viele von denjenigen, die sich bereits einmal hatten „verschicken“ lassen, ließen sich auch jetzt wieder anwerben und wussten den Neulingen ebenfalls mancherlei Günstiges über das schöne „Sachsen“ zu erzählen. Die Behandlung der Arbeiter sei besser wie auf den pommerschen Höfen, die Kost sei schmackhafter, und vor allem würden dort ungleich höhere Löhne gezahlt. Letzteres wurde selbst von denjenigen zugegeben, denen es dort sonst nicht gerade zum Besten gefallen hatte.

Diesen Umstand wusste der Agent auch sehr geschickt auszunutzen. „Kinder“, sagte er überzeugend, „die 8 oder 9 Monate sind ja keine Ewigkeit; wenn’s euch dort nicht passt, kommt ihr zum Herbst wieder; freie Reise kriegt ihr ja.“ Er fügte noch hinzu, dass der Trupp, den er jetzt noch brauche, nur ein Nachschub sei, denn mehrere Hundert habe er bereits im Januar und Februar angenommen und schon Anfang März noch verschiedenen Gegenden Sachsens geschickt: wer also mitwolle, möge sich bis zum nächsten Wochenmarkt besinnen, dann gehe der Transport ab.

In dieser Weise hatte auch ich den Mann auf dem Hofe der Schnapskneipe, in der er logierte, reden hören und musste offen gestehen: seine Worte elektrisierten mich förmlich. Zu Hause sprach ich mit meiner Mutter darüber. Sie hatte auch schon daran gedacht, sagte sie, doch in der Hoffnung, dass sich vielleicht sonst noch etwas passendes für mich finden würde, war sie wieder davon abgekommen. Schließlich wusste ich ihre Bedenken zu zerstreuen. Ich wies auf andere hin, die auch schon jung aus der Heimat „weggemacht“ waren und die doch sehr schöne Briefe nach Hause schrieben, erinnerte auch an den Ausspruch eines Lehrers, dass man etwas von der „Welt“ gesehen haben müsse, wenn man mitreden wolle, und rechnete schon all den schönen Verdienst zusammen, den ich „dort draussen in Sachsen“ erzielen würde. Ich sehe sie noch vor mir, meine Mutter, wie sie tief Atem holte und sagte: „Na denn geh’, es ist ja einmal das Schicksal von uns armen Leuten, dass wir unsere Kinder in die Welt hinausstoßen müssen, wenn sie nur eben die Finger rühren können.“

Ja, so war es tatsächlich. Schon seit Jahren kannte man es dort gar nicht anders, als dass die Kinder armer Leute, sobald sie schulfrei waren, für sich selbst sorgen mussten: der Wind mochte sie hinwehen, wohin er wollte. Und merkwürdig oder nicht: den allermeisten gefällt es draussen in der Fremde besser wie in der Heimat.

Kaum hatte ich die Erlaubnis meiner Mutter zur Abwanderung erlangt, so suchte ich auch schon den Agenten auf, um mich ebenfalls als Sachsengänger einschreiben zu lassen. Er tat zuerst zwar so, als sei ich nicht „bisken reichlich klein“, und hegte auch einige Bedenken wegen meiner noch zu großen Jugendlichkeit. Unter sechzehn Jahren nehme er die Jungs nicht gerne, sagte er, denn einmal werde von den Herrschaften in Sachsen dieses Mindestalter für Dienstjungen meistens ausdrücklich verlangt, dann aber auch setze er sich leicht polizeilichen Scherereien aus, wenn er erst Vierzehnjährige vermittele. Hier sprang nun der Dorfschnitter Höhnke ein. „Den Bünzel könnte ich gebrauchen,“ meinte er, „der kann Ochsenjunge auf der Zuckerfabrik werden; da wird’s nicht so genau genommen.“ Gleichzeitig holte er ein Kontraktformular hervor und forderte mich auf, meinen Namen darunter zu setzen. „Zu lesen brauchst du das gar nicht erst, Junge,“ sagte er dabei, „du kriegst auf der Fabrik 6 Groschen Tagelohn, und wenn du tüchtig bist, wird dir das Fahrgeld nicht vom Lohn abgezogen.“

Mit dieser summarischen Erklärung begnügte ich mich auch vollauf; gingen mir doch lediglich die 60 Pfennig Tagelohn im Kopf herum. Welches Glück! Ich sollte als vierzehn jähriger Junge in Sachsen ebensoviel verdienen, wie ein voll wertiger Tagelöhner in meiner hinterpommerschen Heimat! Was brauchte ich da zu wissen, was sonst noch alles in dem langen Kontrakt drin stand? Es genügte mir, dass ich als Ochsenjunge für die Zuckerfabrik W. in Schleswig-Holstein angenommen war und – unterschrieb. Noch vier Tage, dann sollte der Transport abfahren.

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Um halb 4 morgens waren wir alle auf dem Bahnhof zusammen; die Angeworbenen aus den umliegenden Dörfern hatten sich mit Sack und Pack bereits des Abends vorher eingefunden. Wir waren unter insgesamt 45 Personen: Männer, Frauen, Jungen und Mädchen; ich schien der jüngste von allen zu sein.

Wie wir dastanden auf dem Bahnhof! Jeder mit seinem Packen oder Bündel vor sich; hier ein Kasten, dort ein Korb, ein Sack oder auch nur ein Stück Sackleine, in das die Habseligkeiten eingebunden waren. Und doch: innere Bewegung oder gar Traurigkeit zeigte auch nicht eines der verschiedenen Gesichter. Nur meine Mutter, die mich nach dem Bahnhof begleitet hatte, konnte eine gewisse Beklommenheit nicht unterdrücken. Einige der Männer waren trotz der frühen Morgenstunden sogar lustig und fidel; sie sangen und prosteten sich aus der Fuselbuddel zu. So harrten wir des Zuges, der uns aufnehmen sollte.

Weshalb wurden die heimatsflüchtig, diese Männer und Frauen, diese Kinder und Mädchen? Warum schüttelten sie den hinterpommerschen Staub so leichtherzig von den Pantoffeln? Ein alter Tagelöhner gab die Antwort darauf, indem er mir ermunternd zurief: „Man ümmer Kopp hoch, mien Jüngchen, schlechter as hier kann’t us in de ganze Wilt ni gahn!“ Ein kurzer herzlicher Abschied – dann dampfte der Zug mit uns ab. Ich ahnte nicht, dass ich meine Heimat erst nach 20 langen Jahren wiedersehen sollte.

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Quelle: Franz Rehbein, Das Leben eines Landarbeiters. Jena, 1911, S. 26-30.

„Sachsengänger“ auf der Durchreise in Berlin (1907)

Quelle: Otto Haeckel, „Sachsengänger“ auf der Durchreise in Berlin, Deutsches Historisches Museum, BA 97/14961

© DHM

Franz Rehbein, „Im Sachsengängerzuge“ (1911), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/migration/ghis:document-51> [02.12.2023].