Carl Munde, Meine Flucht von Dresden nach New-York im Jahre 1849 (1867)
Kurzbeschreibung
Carl Munde (1805-1887) stammte aus Freiberg in Sachsen und arbeitete als Sprachlehrer, bevor er sich als Hydropath („Wasserarzt“) einen Namen machte. Als Mitglied des radikaldemokratischen Vaterlandsvereins sowie einer örtlichen Turnervereinigung in Dresden war er an der Märzrevolution 1848/1849 gegen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse im Deutschen Bund beteiligt. Er wurde verwundet und floh mit seiner Familie zunächst nach Antwerpen und schließlich in die USA, wovon er in diesem Artikel berichtet. Es gelang ihm, in Massachusetts eine Klinik für Hydrotherapie zu etablieren. Doch nach einer Amnestie für die Revolutionäre kehrte Munde mit seiner Familie 1866 zurück nach Deutschland, bevor er sich schließlich im damals österreichischen Görz niederließ.
Quelle
[…]
Die Dresdner Ereignisse von 1849 sind bekannt. Ich war Mitglied des Centralausschusses der Vaterlandsvereine, Stadtverordneter, als solcher und als Commandant der gesetzlich organisirten, obgleich durch und durch demokratischen, Turner-Waffenschaar Mitglied des Ausschusses der Dresdner Bürgerwehr und nahm folglich an allen Beschlüssen dieser Körper Theil, während ich mit meiner Schaar, als der einzigen, die an jenem verhängnißvollen zweiten Mai in geschlossener Ordnung und von ihren ordentlichen Officieren geführt vorrückte, zur Unterstützung des Volkes vorzugehen wagte.
Am fünften Mai, nachdem ich eben auf der dem Schloß am nächsten gelegenen Barricade den Soldaten eine kurze Rede gehalten, wurde vom Schloß und den geistlichen Häusern aus ein lebhaftes Feuer auf mich eröffnet, als ich die Barricade hinabstieg und mitten unterm Feuer nach dem Hotel de Pologne zurückging, durch das ich herausgekommen war. Die Kugeln pfiffen rechts, links und über mir vorbei, wohl fünfzig, ehe mich eine traf. Diese eine traf aber! Ich fühlte deutlich, wie sie durch den linken Unterschenkel ging, setzte indeß mit Hülfe eines spanischen Rohres, das ich wegen eines auf der Barricade vertretenen Fußes in der rechten Hand trug, meinen Weg noch um einige Schritte fort, bis ich die Thür des Hotel de Pologne erreichte und dort meinen Leuten in die Arme fiel. Der Blutverlust war so stark, daß ich bald meine Sinne schwinden fühlte und nur eben noch Zeit hatte, anzuordnen, daß man mich durch das Haus des Bankier Kaskel nach der Löwenapotheke tragen solle, wo ein Verbandplatz angelegt war.
Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich, in kaltem Schweiße gebadet, auf einem Strohlager am Boden der Apotheke und rechts und links neben mir andere mehr oder minder schwer Verwundete. Ein junger Arzt kniete zu meinen Füßen und untersuchte, meinen entblößten Fuß in der Hand, meine Wunde. Meine Frage, ob Knochen entzwei wären, verneinte er. Am nächsten Tage brachte jedoch mein Diener Hingst meinen Strumpf, in welchem noch einige Knochensplitter staken. Er sagte, er habe schon eine Menge herausgewaschen. Späterhin fand sich, daß das Wadenbein ganz entzwei und die Hälfte des Schienbeines fort war; daß ich also die letzten Schritte, welche ich nach der empfangenen Kugel noch gethan, blos auf einem halben Schienbein gemacht hatte. Das Bein schwoll schnell an und erschwerte die Untersuchung.
Nachdem ich durch einen Freund meiner Frau einige Zeilen gesandt, ließ ich mich in einem Krankenkorbe durch die Scheffelgasse und, da diese an der Wallstraße von einer Barricade gesperrt war, durch das jetzige Hôtel garni von Meisel nach meiner Wohnung in der Oberseergasse tragen, wo mich mein treues Weib unter Thränen der Freude und des Schmerzes empfing. Welche Freude, daß ich wenigstens nicht todt nach Hause gebracht worden!
Da lag ich nun drei Tage ohne anderen Verband, als nasse Tücher, welche ich oft mit frischem Wasser anfeuchtete, und ohne etwas zu essen. […] Währenddem wurde der Kampf wilder und wilder. Endlich am achten Nachmittags kam mein Freund Dr. Herz zu mir und sagte mir, er fürchte, wir würden nicht lange mehr Widerstand leisten können; wenn ihn nicht Alles täusche, so werde die Stadt noch in dieser Nacht genommen werden. Das bewog mich denn doch, meinen Diener nach einem Wagen zu schicken, um mich nach irgend einem benachbarten Orte zu führen. Nach vieler Mühe hatte er einen Bauer aufgetrieben, der bereit war mich gegen eine Vergütung nach Tharand mitzunehmen.
Es wurde also eine Matratze auf den Boden des Wagens gelegt, ich hinein gehoben, und einige Kleidungsstücke, nebst meinem Säbel, neben mich gelegt; dann stieg meine Frau mit einem dritthalbjährigen Kinde und einer meiner älteren Söhne von etwa fünfzehn Jahren, Albert, auf den Wagen, und zuletzt der Bauer selbst, und nun ging es, begleitet von vier meiner Scharfschützen mit geladenen Büchsen, zum plauenschen Schlage hinaus nach Tharand zu. Eine Stunde von Dresden schickte ich meine Escorte zurück, erreichte Tharand gegen elf Uhr Abends ohne Unfall und fand bei einer uns befreundeten Kaufmannswittwe gastfreie Aufnahme und Pflege.
Früh am Morgen schickte ich nach einem Wundarzte, um meine Wunde untersuchen und einen ordentlichen Verband anlegen zu lassen. Er hatte eben die Sonde eingeführt, als mein Sohn ins Zimmer stürzte mit der Nachricht, Dresden sei genommen und Zuzügler und Flüchtlinge kämen in großen Massen die Straße hergezogen. Er habe Heubner gesprochen, der sogleich hier sein werde.
Hastig folgte ihm dieser und fragte mit kaum erkennbarer heiserer und rauher Stimme: „Wie geht Dir’s, Munde?“
„Schlecht, wie Du siehst!“
„Es ist Alles vorüber. Du kannst hier nicht bleiben. Komm’ mit uns im Regierungswagen.“
„Ich kann nicht sitzen und muß das Bein hoch liegen haben.“
„Gut, so will ich einen Bauerwagen für Dich requiriren; er soll sogleich hier sein.“
„Was denkt Ihr zu thun?“
„Wir setzen uns in Freiberg.“
„Das geht nicht. Ihr könnt Euch da nicht halten.“
„Wir versuchen es; mit den Zuzüglern haben wir über zehntausend Mann.“
„Deren laufen drei Viertheile davon. Macht, daß Ihr weiter kommt.“
„Ich muß fort. Adieu. Auf Wiedersehen in Freiberg!“
Der Arme wußte nicht, welches Schicksal ihm in Chemnitz bevorstand, das er mit Bakunin und Martin todmüde in der nächsten Nacht erreichte. Wir sahen uns wieder, aber nicht in Freiberg, nachdem ich siebzehn Jahre in Amerika und er zehn Jahre in Waldheim verlebt! Bakunin sah ich im Jahre 1861 in New-York, auf seiner gelungenen Flucht aus Sibirien.
[…]
Bald ließ ich Alle hinter mir zurück. In Grüllenburg traf ich den Vortrab der kleinen Armee, welche Dresden zu Hülfe zog – ich will nicht sagen eilte; denn sie kamen zu spät. Ich ließ den Commandirenden herbeirufen und sagte ihm, er könne gleich wieder umkehren, der vierspännige Regierungswagen folge mir auf dem Fuße. Er wollte mir nicht glauben. Es war Prößel aus Chemnitz. Ich sah ihn in New-York wieder, wo er ein Hôtel in Beekman-Street hielt.
[…]
So brach wieder eine von den Nächten herein, welche mir so wenig Ruhe brachten und die ich voll Schmerz und Kummer durchwachte. Gegen sechs Uhr Morgens sah ich durch ein Fenster meines Zimmers, von meinem Bett aus, sächsische Cavalerie und reitende Artillerie über den Hammerberg herabkommen. Die Thore der Stadt wurden besetzt und auf dem Marktplatze, auf welchem noch ein Stein die Stelle bezeichnet, wo Kunz von Kauffungen, der Prinzenräuber, enthauptet worden, fuhr man Kanonen auf. Sofort wurde Alles arretirt, was irgend wie verdächtig war. Zum Glück hatte die Polizei zu viel im Innern der Stadt zu thun, um sich um die Vorstädte und mich zu bekümmern. Und ich lag so ungestört den ganzen Tag, ungewiß was aus mir werden würde. Viele meiner Cameraden besuchten mich am ersten Tage. Alle versprachen mir einen Wagen zu schaffen. Keiner konnte Wort halten. Sämmtliche Pferde waren von den Flüchtigen in Beschlag genommen worden. Am nächsten Tage, den 10. Mai, besuchte mich ein Bergmann, Schüttauf mit Namen, der mit mir von Tharand nach Freiberg gefahren, und fragte, ob er etwas für mich thun könne. Ich bat ihn, nach Halsbrücke zu einem Verwandten zu gehen, diesen zu fragen, ob ich ein paar Tage bei ihm bleiben könne, und wenn er eine günstige Antwort erhielt, einen Wagen zu miethen und mit diesem Schlag halb Sieben durch die Hinterthür im Hofe des Hauses sich einzufinden, um mich abzuholen. Im Gasthof zum „wilden Mann“, vorn gegenüber, stand ein Piket sächsischer Reiter. Der Wagen kam pünktlich. Ich nahm Abschied von meiner guten alten Mutter und meiner Schwester. Ich habe keine von Beiden wiedergesehen! Mein Schwager setzte mir eine Berguniformsmütze auf den Kopf und hing mir einen Officiantenmantel um, und so wurde ich in den leichten offenen Wagen gehoben; mein Sohn Albert setzte sich neben mich, und nun fuhren wir auf wohlbekannten Nebenwegen hinter der Stadt – meiner Geburtsstadt – herum nach dem eine Stunde entfernten Halsbrücke zu.
Hier wurde ich vom Vetter Ludwig und seiner freundlichen jungen Frau wie ein Bruder aufgenommen und so bequem installirt, daß ich gern lange geblieben wäre, wenn es sich nur hätte thun lassen. […]
Wir berathschlagten, wohin man mich bringen könne. Ludwig’s Frau nannte ihren Vater, welcher in Bräunsdorf wohnte und der wohl im Stande sein werde mich zu verbergen. Der Fuhrmann, welcher mich gebracht, wurde wieder engagirt, aber dieses Mal mit einem Korbwagen. Als es dunkel war, wurde meine Matratze wieder eingelegt, ich darauf, dann eine Partie Hausgeräth über mich gepackt, so daß das Ganze wie ein Auszug aussah, eine Plane über den Wagen gezogen, und so ging es in die Nacht hinaus, nach Bräunsdorf zu. Cousin Ludwig und Albert marschirten zu Fuß vor und neben dem Wagen her.
Wir erreichten Bräunsdorf gegen zwei Uhr Morgens und hielten vor dem Hause des alten Herrn an, der nach einigem Pochen sich hören ließ. Er weigerte sich mich aufzunehmen, da es keine zwei Tage verschwiegen bleiben könne. Auf meine Bitte händigte er mir durch Ludwig fünfzig Thaler in einer Rolle ein. Eine andere Summe hatte mir ein edler Freund in Freiberg geliehen, dessen Hülfe ich schon dreizehn Jahr früher mein Leben und meine Gesundheit dankte. Wir waren also gezwungen, unsere Reise fortzusetzen. Ich wußte nicht wohin. Da fiel mir der Gerichtsdirector Schiffner in Mittweida ein, sowie der Abgeordnete Müller von Taura. Wir fuhren weiter auf Haynichen und Mittweida zu, obgleich ich nicht wußte, wie mir die beiden Gesinnungsgenossen helfen sollten.
[…]
Ich übergehe die Schicksale auf meiner Fahrt bis zum ersten altenburgischen Dorfe, Wolperndorf. Es war mitten in der Nacht, als wir dort anlangten. Ich lag fast beständig in Schlafwachen und kam erst wieder zu klarem Bewußtsein, als die beiden Männer an dem Thore des altenburgischen Gasthofs pochten, daß das ganze Dorf hätte erwachen mögen. Trotz alles Lärmens regte sich Niemand: es war sicher, daß der Wirth, wegen der vielen, zum großen Theil bewaffneten Flüchtlinge, an denen kaum etwas zu verdienen war, nicht öffnen wollte. Endlich stiegen die Männer über die hohe Mauer in den Hof, und nach vieler Mühe und nachdem sie sich mit dem großen Kettenhund herumgeschlagen, der sie wüthend anfiel, gelang es ihnen, den Wirth und seine Tochter herauszuklopfen.
Ich hörte, wie der Wirth sich weigerte, mich aufzunehmen, und wie er nur durch vieles Zureden, namentlich auch Seitens seiner Tochter, sich bewegen ließ, endlich das Thor aufzumachen und zu gestatten, daß der Wagen in den Hof fuhr.
[…]
Am Nachmittag kam Rittler zur festgesetzten Stunde und brachte seinen neunjährigen Sohn Anton mit, damit der Wagen mehr das Ansehen einer Familienangelegenheit erhalte. Durch die Erfahrung klug geworden, schärften wir den Freunden in Wolperndorf ein, Niemand, wer es auch sei, meinen Aufenthalt zu verrathen, und fuhren nach herzlichem Abschied und mit dankerfülltem Gemüth gegen alle die guten Menschen davon. Nur einmal hatte ein Gensd’arm, der Albert gesehen, angefragt, aber zum Bescheid erhalten, daß der junge Mensch auf der Pfarre zum Besuch sei; so viel man wisse, sei er ein Vetter oder gar ein Bruder der Frau Pastorin. Nachdem Rittler sich überzeugt, daß ich geläufig und mit gutem Accent englisch sprach – Engländer hatten mich schon hier und da für einen Landsmann gehalten – kamen wir überein, daß ich als Amerikaner, und zwar als Mr. Charles Murray (das C. M. mußte der Wäsche etc. wegen beibehalten werden), der beim Umwerfen des Wagens ein Bein gebrochen, im Hause des Doctors eingeführt werden und dort an seinem Schaden behandelt werden sollte. Deutsch durfte ich nur wenig und nur gebrochen sprechen, außer wenn wir ganz allein waren. Die Frau Doctorin hatte mehrere Jahre in England gelebt und sprach gut englisch; und so konnte sie die Dolmetscherin machen, und Niemand konnte eine Idee haben, daß Mr. Murray von New-York eigentlich Niemand anders als Dr.Munde von Dresden sei. Um dem Factum das Siegel aufzudrücken, sollte ein junger Engländer, der sich in Altenburg aufhielt und Rittlers häufig besuchte, bei mir eingeführt werden. Und so geschah es denn, und zwar, trotz der vielen Chancen, denen unser Plan ausgesetzt war, mit glücklichem Erfolg. Rittler hatte es eingerichtet, daß wir im Dunkeln in Altenburg ankamen, welches von einem Bataillon Preußen besetzt war.
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Um die Polizei von meiner Fährte zu bringen, schrieb ich gleich in den ersten Tagen einen Brief an meine Frau, den ich an ein befreundetes Parlamentsglied in Frankfurt schickte, mit der Bitte, ihn dort auf die Post zu geben. Ich zeigte meiner Frau darin an, daß ich glücklich in Frankfurt angekommen und im Begriff stehe, nach Baden abzureisen, wo mir ein Commando angetragen worden sei. Meine Wunde am rechten Fuße habe nicht viel zu bedeuten. Der Brief wurde natürlich geöffnet, und bald darauf sah ich aus meinem Steckbrief, daß ich am rechten Fuße durch einen Schuß leicht verwundet sei. Jener Steckbrief enthielt zweiundzwanzig der am meisten gravirten Namen, unter denen ich mich nicht zu schämen brauchte, da Männer wie Richard Wagner, Professor Semper, Dr.Köchly, Regierungsrath Todt, Leo von Zichlinski, Marschall von Biberstein etc. darunter waren.
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Ein paar Tage nach der Abreise meiner Frau brachte mir Rittler in der That einen königlich sächsischen Reisepaß in blanco, nebst dem vollständig ausgefertigten Passe eines seiner Freunde, der im Begriff war, mit seiner Familie nach Amerika auszuwandern, von derselben Behörde ausgestellt, so daß das Document in bester Form nach meinem Gefallen ausgefüllt werden konnte. Der Beamte, welcher mir den Paß sandte (nicht den ersten, den Rittler von ihm empfangen), kam später in Untersuchung, entkam aber durch die List und Geistesgegenwart seiner Frau aus dem Gefängnisse, indem sie den ihn verfolgenden Polizeidiener in den Keller fallen ließ und ihn da einsperrte, und ließ sich in Amerika nieder. – Es war ein Glück für mich, daß nicht alle demokratische Beamte so ängstlich waren, wie Freund Flügel, sonst hätte ich, trotz aller Liebe und Freundschaft, die mir sonst erzeigt wurde, zu Grunde gehen müssen. Möge der Retter in der Noth, welcher, so viel ich weiß, in Philadelphia lebt, meinen späten Dank auf diesem Wege nicht verschmähen. Ich und meine Familie haben ihn und die Seinen tausendmal gesegnet.
Während Freund Rittler dergestalt für meine Weiterreise sorgte, versahen mich andere Freunde mit den nöthigen Geldmitteln, von denen ich mehr zusammenbrachte, als ich für mich im Augenblicke brauchte. Mein braver Verleger schickte mir nicht allein mehrere hundert Thaler, sondern eröffnete mir auch in Brüssel einen ansehnlichen Credit. Sobald ich im Stande war, mit Hülfe von Krücke und Stock mir fortzuhelfen, drängte es mich zur Reise. Eine innere Stimme sagte mir, daß Gefahr im Verzug war und daß jeder Tag eine Entdeckung herbeiführen könne. Der brave Hofbrauer Ruoff hatte mir seine Equipage versprochen, und der Tag der Abreise war festgesetzt. Am Abend vorher kam er, um mir zu sagen, daß sein Fuhrwerk noch nicht zurück sei und daß er nur ein Pferd zu Hause habe; ich werde wohl noch einen Tag warten müssen. Ich sprach meine Besorgniß aus, daß ein Tag länger mir verderblich werden könne; ich vermöge es nicht, die Ahnung zu unterdrücken, daß die Polizei endlich auf mich aufmerksam geworden, eine Haussuchung vornehmen werde, um zu sehen, wer denn der mysteriöse Engländer, von dem sie doch wohl eine Spur erhalten haben können, eigentlich sei. Nach einigem Nachdenken sagte er endlich kurz entschlossen: „Nun gut, so will ich Ihnen mein Reitpferd dazu geben, und morgen zu Hause bleiben. Um vier Uhr Morgens soll der Wagen da sein.“ Ich hoffe, der Gedanke an meine Rettung hat dem biedern Mann sein letztes Stündlein, das viel zu früh schlagen sollte, erheitern helfen.
Der Wagen fand uns Alle lange vor vier Uhr bereit. Die gute Doctorin hatte für Frühstück gesorgt, und so sehr es mich forttrieb, that es mir doch sehr weh, von der treuen Freundin, die so viel für mich gethan, Abschied zu nehmen. Der Doctor begleitete mich bis Halle. Noch denselben Nachmittag erschien in seinem Hause die Polizei, leider nicht zum letzten Male; denn er wurde später eingezogen und, nachdem er mehrere Monate im Gefängniß gesessen und fast zu Grunde gerichtet war, ebenfalls gezwungen, mit seiner zahlreichen Familie nach Amerika auszuwandern, wo ich Gelegenheit hatte, ihm einen Theil meiner Schuld zurückzuzahlen. Denn ganz bezahlt man eine solche Schuld im Leben nicht!
Wir fuhren nach Weißenfels zum nächsten Bahnhof. Nach Leipzig durfte ich mich nicht wagen, aus Furcht erkannt zu werden. Unterwegs trafen wir beim Anhalten an einem Dorfwirthshaus den ersten preußischen Gensd’armen. Der elegante Wagen, mit den reichen Pferdegeschirren und dem Kutscher in Livrée, imponirten ihm jedoch so, daß er blos höflich grüßte, was ich auf eine leutselige Weise, wie es große Herren zu thun pflegen, erwiderte.
Doctor Rittler nahm Billets für zweite Classe und sagte, indem er dem von Polizei umstandenen Wagen sich näherte und seine Mütze lüftete: „Wenn’s Ihnen gefällig ist, Herr Baron, ich habe die Billets.“ Worauf ich ein vornehmes: „Gut, lieber Doctor,“ hören ließ und mich anschickte, mit seiner und Albert’s Hülfe den Wagen zu verlassen, um mich in das für uns bestimmte Coupé des Dampfzuges zu begeben. Hier eingerichtet, was mit Hülfe einer Art Brücke von Holz und schwarzer Leinwand, auf die ich mein Bein ausstrecken konnte, geschah, brachte ich meinen Dolch in eine solche Lage, daß ich ihn sofort ergreifen konnte, wenn es nöthig würde.
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Mein Entschluß war gefaßt, und Rittler wußte es. Er hatte einen Brief von mir an meine Frau, in dem ich für den schlimmsten Fall von ihr Abschied nahm und ihr einigen Rath in Betreff ihrer und der Kinder Zukunft ertheilte. Leider gelangte dieser Brief, durch ein Mißverständniß, zu früh an sie, ehe sie Nachricht hatte, daß ich in Sicherheit war, und veranlaßte ihr viel Schmerz und Thränen. Sie hat ihn lange aufbewahrt, bis er endlich, wie fast alle uns theuren Erinnerungszeichen aus jener schweren Zeit, durch das Brandunglück verloren ging, welches uns im Herbst 1865 in Florence betraf.
Ich fürchtete Halle sehr, denn ich hatte gehört, daß die Dresdner Polizei einen Commissar dort aufgestellt habe. Zwar war alles Mögliche geschehen, um mich unkenntlich zu machen. Mein Bart war weg; ich trug keine Brille, hielt mich in einen grauen Ueberrock gehüllt, sehr gebeugt, war bleich und abgemagert, und hatte eine grüne Jagdmütze mit doppeltem breitem Visir auf, welches den obern Theil meines Gesichts verbarg (den unteren hatte Niemand ohne Bart gesehen) und auch die Form des Hinterkopfs verdeckte. Außerdem waren meine kurzgeschnittenen Haare in den letzten Wochen auffallend gebleicht, so daß man, statt eines großen, starken Mannes von vierundvierzig, einen gebrochenen Greis von achtundsechzig Jahren vor sich zu haben glauben mußte. Allein dennoch war das Erkennen möglich, vielleicht durch meinen Sohn, vielleicht sogar durch den treuen Freund, der als Spediteur auf der „unterirdischen Eisenbahn“ bereits eine Art Berühmtheit erhalten hatte, oder, wie einer der militärischen Autoren über die Maiereignisse sich in Bezug auf mich selbst ausdrückte, „berüchtigt“ geworden war.
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Noch ein Händedruck, ein „Adieu, Herr Baron, schreiben Sie bald,“ ein „Adieu, lieber Doctor, tausend Dank für all’ Ihre Mühe,“ und fort ging der Zug, ohne daß mir in Halle ein Haar gekrümmt worden. In Magdeburg mußte wieder einige Zeit gewartet werden, ehe der Zug nach Hannover abging. Ich hinkte an Krücke und Stock nach der Restauration; meine Schmerzen waren so heftig, daß mir der Schweiß über das Gesicht herabrann, als ich durch die aufgestellten Gensd’armen und Soldaten Spießruthen lief. In der Restauration trat mir ein großer und starker Herr von etwa fünfundvierzig Jahren im grauen Reitrock entgegen und fragte, ob er mir mit etwas dienen könne. Ich hielt ihn für den Wirth und bat um einen Stuhl und ein Glas Wasser. Er führte mich nach einem Lehnstuhl, welcher im Dunkeln stand, bestellte ein Glas Wasser und bot mir eine Prise aus einer goldenen Dose. Als ich sie annahm und meine Freude darüber ausdrückte, bot er mir die ganze Dose.
„Sie können sie mir ja in Hannover wieder geben,“ fügte er hinzu. Ich lehnte sie dankbar ab.
Ich wußte nun, daß es der Hofrath war, und es gewährte mir einige Erleichterung, außer meinem Knaben, noch eine befreundete Seele um mich zu wissen. Ziemlich spät am Abend kamen wir in Hannover an, wo mich der kräftige Hausknecht des Hotel du Rhin auf dem Rücken nach seinem Gasthaus trug und mich in unserem Zimmer eine Treppe hoch absetzte. […]
Am nächsten Tage passirten wir Aachen und die belgische Grenze. Als ich an dem belgischen Löwen vorbeikam, war mir es, als ob mir ein Mühlstein von der Brust genommen wäre. Ja, ich fühlte mich so leicht und froh, daß ich selbst meinen Häschern hätte um den Hals fallen können.
In Verviers wurden die Pässe vorgezeigt und die Koffer untersucht. Weder die bebärmützten Gensd’armen, noch die Zollbeamten hatten etwas gegen Herrn Christian und seinen Sohn einzuwenden, und am Abende landeten wir in Brüssel in dem mir mit Recht empfohlenen Hôtel du Grand Café, wo ich mich unter den Schutz und die Pflege des guten alten Herrn Rosart begab, in der ich wieder über sechs Wochen lang verblieb, anfangs unter meinem angenommenen, gegen das Ende aber unter meinem rechten Namen, wie ich bald erzählen werde.
[…]
Es war ursprünglich meine Absicht gewesen, mich in England niederzulassen, und dahin lautete auch der Paß meiner Frau. Ein Zufall machte mich jedoch mit dem Inspècteur général de l’Université de Bruxelles, Herrn van Hasselt, bekannt, der mir, nachdem wir uns einige Male über Erziehung und Lehrmethoden unterhalten, eine Professur an der Universität Lüttich anbot. Meine Freunde widerriethen mir, sie anzunehmen. Die Erziehungsanstalten ständen alle unter dem Einflusse der Jesuiten, und diese würden nicht ruhen, bis sie die Protestanten wieder ausgebissen hätten. Clemson machte meinem Zweifel ein Ende.
„Nonsense,“ sagte er, „auch nur daran zu denken, in einem Lande zu bleiben, wo immer Einer dem Andern das Brod aus dem Munde reißt. Gehen Sie nach Amerika, wo an Allem Ueberfluß ist. Ich will an meinen Schwiegervater schreiben, und Sie sollen keinen Mangel leiden.“
Und so schifften wir uns denn am 20. August in Antwerpen auf der Schelde ein, und landeten am letzten September am Fuße von Fultonstreet in New-York, um in der Neuen Welt das Leben von Neuem anzufangen.
[…]
Quelle: Carl Munde, „Meine Flucht von Dresden nach New-York im Jahre 1849“, in Die Gartenlaube, herausgegeben von Ernst Keil, Heft 10 und 11. Leipzig, 1867, S. 152–56, 168–71.