Friedrich K. Kurylo, „Die Türken probten den Aufstand“ (7. September 1973)
Kurzbeschreibung
Zwischen dem 24. und 30. August 1973 bestreikten türkische Arbeiter das Ford-Werk in Köln entgegen der Empfehlung des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der IG Metall, ihrem eigenen Verband. Seit den 1990er Jahren gehört Ford Deutschland mit seinem 1996 gegründeten Diversity Council und seiner Initiative „Türkölsches Zusammenarbeiten“ zu den Firmen in Deutschland, die ihre Unternehmenskultur explizit nach dem Modell „Vielfalt als Stärke“ neugestaltet haben.
Quelle
Hintergründe des wilden Streiks bei Ford
„Wir saßen in der Meisterbilde und versteckten uns unter den Schreibtischen, wenn die Türken durch die Halle zogen.“ Noch jetzt scheint dem deutschen Ford-Arbeiter der Schreck in den Gliedern zu stecken. Er war Zeuge des bisher folgenschwersten Streiks von Gastarbeitern in der Bundesrepublik. Sieben Tage lang standen bei den Ford-Werken in Köln rund zweitausend Türken auf den Barrikaden. Sie hatten die Arbeit niedergelegt und damit die Fließbänder des Automobilwerkes gestoppt.
Der wilde Streik der Türken begann, nachdem die Betriebsleitung 300 ihrer Landsleute gekündigt hatte, weil sie verspätet aus dem Urlaub zurückgekehrt waren.
Doch diese Kündigung war nur der letzte Auslöser. Der Unmut hatte sich lange vorher angestaut. Die zornigen Männer, die tagelang die Produktion blockierten, fühlten sich auch noch von anderen Mißständen provoziert. Sie prangerten die Arbeitsbedingungen an, forderten bessere Bezahlung und beklagten die Diskriminierung durch ihre deutschen Kollegen.
Was auch in vielen anderen Betrieben unterschwellig brodelt, drang bei Ford zum erstenmal an die Öffentlichkeit: Die Gastarbeiter, das neue deutsche Proletariat, begehrte auf. Daß das gerade hier in Köln geschah, ist nicht verwunderlich. In der Großstadt am Rhein offenbaren sich die Probleme der Gastarbeiter in exemplarischer Weise, bei der Unterbringung ebenso wie am Arbeitsplatz.
Die Ausländer, vornehmlich Türken, wohnen hauptsächlich in Altbauten aus der Gründerzeit zwischen Ringstraße und Eisenbahnring rund um die Innenstadt. Die meisten Deutschen sind längst aus den Häusern gezogen, an deren Mauern sich Tag und Nacht die Wellen des Verkehrslärms brechen. Die sanitären Anlagen der Mietshäuser sind meist völlig unzureichend; in die Hinterhöfe dringt nur selten ein Sonnenstrahl.
Der Arbeitsplatz der Türken erscheint auf den ersten Blick viel einladender; aber auch dort spüren sie die soziale Deklassierung. Zwar versichern die Gewerkschafter bei Ford: „Sie arbeiten zum selben Tarif wie wir, sie erhalten den gleichen Lohn für die gleiche Arbeit.“ Aber in Wirklichkeit sind die 12 000 Türken eine große, benachteiligte Minderheit unter der Gesamtbelegschaft von 32 000 Mann. Die Sprachbarriere verbaut ihnen den Weg zu besseren Löhnen: Türken verrichten in der Regel monotone, schmutzige oder unbequeme Arbeiten – wie das Anziehen von Schrauben an schwer zugänglichen Stellen –, bei denen eine Verständigung mit dem Nebenmann nicht erforderlich ist. Die Deutschen hingegen und die wenigen deutschsprachigen Türken können bei leichterer Teamarbeit bis zu zwei Mark die Stunde mehr verdienen.
Eine Vielzahl von hausinternen Tarifdifferenzierungen zementiert die Ungleichheiten. Es gibt viele, oft sehr schwierige Arbeiten, die von Deutschen überhaupt nicht mehr ausgeführt, sondern ganz den Ausländern überlassen werden. Und die Tarife dafür sind eben Gastarbeitertarife.
Gewerkschaft und Betriebsrat, die doch die Interessen aller Arbeitnehmer vertreten sollen, können kaum Abhilfe schaffen. Verständigungsschwierigkeiten behindern vielfach eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Die Gewerkschaftsfunktionäre sprechen kein Türkisch. Die Betriebsdolmetscher aber werden – mitunter zu recht – als verlängerter Arm der Geschäftsleitung betrachtet.
Im vergangenen Jahr schien es eine Zeitlang, als könne es den Türken gelingen, die Mängel ihrer Interessenvertretung zu beheben. Ihr Landsmann Mehmed Özbagci wurde in den Betriebsrat gewählt. Doch wie reagierte der von einer absoluten IG-Metall-Mehrheit beherrschte Betriebsrat? Er weigerte sich, Özbagci in den engeren Kreis der freigestellten Betriebsräte aufzunehmen. Der Betriebsratsvorsitzende Ernst Lück meinte: „Der Mann konnte kein Deutsch und hatte noch nicht einmal ein Betriebsverfassungsgesetz.“
Özbagei muß seither die Belastungen eines stark in Anspruch genommenen Betriebsratsmitgliedes neben seiner Arbeit am Band bewältigen. Türkische Kollegen unterstützen ihn mit Geld, damit er in der Lage ist, die Doppelarbeit durchzuhalten. Außer Özbagci sind noch vier weitere Türken und ein Italiener, alles IG-Metall-Mitglieder, Betriebsräte. Der Gastarbeiteranteil im Betriebsrat liegt damit bei 12,7 Prozent – ihr Anteil an der Beschäftigtenzahl aber beträgt 53,1 Prozent. Diese Zahlen beweisen: Mit dem Recht auf gleiche Repräsentation ist es im Kölner Ford-Werk nicht zum besten bestellt.
Die Kündigung der 300 Türken hat dann die schwelende Unruhe in offene Rebellion verwandelt. Für viele von ihnen ist der Urlaub ja nicht, wie für ihre deutschen Kollegen, eine Pause der Erholung. Sie haben oft tagelange Reisewege in ihre abgelegenen Heimatdörfer, müssen in ihrem Jahresurlaub zu Hause vielfach Pachtverpflichtungen abarbeiten und gelegentlich schwierige familiäre Probleme wie Erbauseinandersetzungen regeln. Dafür haben weder die Betriebsleitung noch die deutschen Kollegen Verständnis. „Da sind doch viele“, so meinte ein deutscher Arbeiter, „die überziehen jedesmal ihren Urlaub so lange, bis ihnen das Geld ausgegangen ist und sie nichts mehr zu essen haben.“
Die Türken aber fühlten sich ungerecht behandelt. Sie fürchteten zudem, die Arbeit der Gekündigten übernehmen zu müssen – an Fließbändern, die ihrer Meinung nach ohnehin zu schnell und mit zu wenigen Pausen laufen. Der Streik war nicht mehr aufzuhalten.
Seine Führung übernahmen – wen wundert es? – Linksextreme. Ob sie gezielt eingeschleust wurden, wie etwa der bei den Bonner Breschnjew-Unruhen bekannt gewordene Abiturient Dieter Heinert (KPD/ML), von dem es heißt, er habe vor Antritt seines Hilfsarbeiterpostens bei Ford eigens Türkisch gelernt, ist nicht zu klären. Nachgewiesen ist jedoch, daß der redegewandte türkische Chef-Agitator Sulaiman Baha Targün (30) erst vier Tage vor Streikausbruch seine Arbeit im Werk aufnahm.
Die Streikforderungen – Teuerungszulage und ein dreizehnter Monatslohn, lauter alte Wünsche des Betriebsrats – führten zunächst zu einer Solidarisierung vieler deutscher Arbeiter mit den Türken. Doch die Solidarität wurde schnell überlagert von Unverständnis, Angst – und schließlich verdrängt von Feindseligkeit und Haß.
Dieser Streik war nicht der Streik der Deutschen. Sie machten ihrem Unmut über die ausländischen Störenfriede Luft. „Die sollte man alle wegjagen“ – das waren noch die harmlosesten Kommentare, mit denen die türkische Aufmüpfigkeit bedacht wurde. In einer Gegendemonstration mit anschließender Massenkeilerei schlugen die deutschen Arbeitnehmer den Streik der Ausländer schließlich nieder. Als Polizeikommandos die Rädelsführer festnahmen, wurde den Ordnungshütern der Rat gegeben: „Die sollte man mal ordentlich durchprügeln, dann vergeht denen das.“
Der Streikerfolg – 280 Mark Teuerungszulage – kommt freilich auch den Deutschen zugute. Den Türken wurde darüber hinaus nur die Rücknahme einiger Entlassungen versprochen. Die Geschäftsleitung und die IG Metall in Köln, die eine Empfehlung an die Gesamtgewerkschaft richtete, haben mittlerweile zu erkennen gegeben, daß sie grundsätzliche Lehren aus dem Streik ziehen und ihre Gastarbeiterpolitik überprüfen wollen. Es ist höchste Zeit dafür.
Quelle: Friedrich K. Kurylo, „Die Türken probten den Aufstand“, Die Zeit, 7. September 1973.