Einführung der Herausgeber/innen

  • Dirk Hoerder
  • Deniz Göktürk

Dieses thematische Modul von German History Intersections beginnt um 1500 und führt bis in die Gegenwart mit offenem Ende, denn Migrationen enden nicht. Die Charakteristika der Migrationen veränderten sich im Laufe der Jahrhunderte, und unsere Quellenauswahl spiegelt sowohl die verschiedenen Gründe und Rahmenbedingungen für Migration wider als auch die unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Reaktionen über einen Zeitraum von mehr als 500 Jahren deutscher Geschichte. Dabei richten wir ein besonderes Augenmerk auf die vielfältigen Erfahrungen der Migranten/innen und deren kulturelle Ausdruckformen.

I. Migrationen, 1500 bis Gegenwart

Dirk Hoerder[1]

Überblick

Dieses thematische Modul von German History Intersections beginnt um 1500 und führt bis in die Gegenwart mit offenem Ende, denn Migrationen enden nicht.

Die Charakteristika der Migrationen veränderten sich im Laufe der Jahrhunderte, und in diesem Abschnitt werden Daten und Quellen für folgende – sich teilweise überschneidende – Zeiträume vorgestellt:

Migrationen von 1500 bis ins 18. Jahrhundert,

frühe, multidirektionale Auswanderung 1680er bis 1820er Jahre

Flucht und Migrationen vor den revolutionären und kriegerischen Veränderungen, 1789-1815

Auswanderung, Rückkehr, Binnenwanderung und Zuzug durch das „verzögerte“ 19. Jahrhundert (1815-1914), sowie Transitmigration aus dem Osten zu den Auswanderungshäfen Bremen und Hamburg in den Jahrzehnten von Industrialisierung und Kolonialismus bis 1914

Bewegung und Flucht während des Ersten Weltkriegs, in der Zwischenkriegszeit, und Faschismus – Zweiter Weltkrieg – Holocaust sowie Umsiedlung in der unmittelbaren Nachkriegszeit

der Wechsel von Aus- und Fluchtwanderung zu Einwanderung nach 1945/55

Zuwanderung und Debatten um „Einwanderungsland“ statt Leitkultur seit den 1990er Jahren.

Lebenserfahrungen von Migranten/innen: Konzepte und Kategorien

Migration ist nicht nur physische Bewegung im Raum, z.B. von Tiroler Händle/rinnen nach Braunschweig und südwestdeutschen ländlichen Familien zu Donausiedlungen, von Hamburg nach New York, aus Galizien nach Ostelbien, von Mailand nach München oder Vietnam nach Berlin. Potenzielle Migranten/innen leben in einer spezifischen Ausgangskultur, einer Mikroregion, in der sie ihre Optionen, Lebensunterhalt zu erarbeiten, abschätzen: sesshaft lokal, in kostengünstig zu erreichender Umgebung (Mesoregion) oder in einer entfernten Makroregion, wie „Amerika“ oder „Australien“, von der sie genaue Informationen über eine Mikrozielregion hatten: Südschweden/innen für die Ostseeregion Deutschlands, Norditaliener/innen für Süddeutschland, Niederländer/innen für norddeutsche Drainageprojekte in Mooren. Viele deutschsprachige Migranten/innen sahen seit dem 18. Jahrhundert „Amerika“ als Option, viele anderssprachige der Gegenwart sehen diese Option in Deutschland. Millionen Männer und Frauen, die – meist in jugendlichem Alter – aus den unter Herrscherfamilien zersplitterten deutschsprachigen Territorien abwanderten, trafen für sich eine Entscheidung. Dies taten ebenso die ländlichen Menschen, die von der Frühen Neuzeit bis zur Zeit der Weimarer Republik vom Land in nahe Städte wanderten.

In die Lebenswegentscheidungen floss vieles ein. Migrationsforscher/innen versuchen, die Vielfalt in verständlichen Kategorien zusammenzufassen. Dazu gehören – und werden in den hier vorgestellten Quellen soweit wie möglich aufgenommen:

emotionale, familiäre und nachbarschaftliche Aspekte von kindlicher Sozialisation über jugendliche Unabhängigkeitsbestrebungen zur Gründung eigener Familien;

lebenzyklische Entwicklungen, die gemäß gesellschaftlichen Vorgaben oder Rollenzuweisungen unterschiedlich für Männer und Frauen verlaufen, denn gender ist Teil aller Entscheidungen am Ort zu bleiben oder einen besseren zu suchen.

Teil von Abwanderungsentscheidungen sind Krieg und Verfolgung, systemische Arbeitslosigkeit und Minderheitenausgrenzung.

Zum kulturellen Hintergrund gehören Schule und Ausbildung, Religion und Rituale, Sprache und Literatur; Rahmen setzen Migrationsregimes, Staatsangehörigkeit und Bürgerrechte, Arbeitskompetenzen und Arbeitsmärkte, monokulturelle Institutionen oder multikulturelle Darstellungen. Grenzen ziehen auch Rassismus und Fremdenhass sowie enge Asylbestimmungen.

Vor diesem Hintergrund bereiten Handels- und Arbeitsmigranten/innen ihren Weg bewusst vor. Für Nahwanderung vom Land in Städte wussten Bauersfrauen und Dorfhandwerker, die auf benachbarten Märkten ihre Produkte verkauften, von Arbeitsmöglichkeiten zu berichten. Briefe aus „Amerika“ informierten Nachwanderer/innen wie in der Gegenwart Handy-Nachrichten; Hilfestellung bieten Flüchtlingsnetzwerke und Hilfsorganisationen oder, nach 1918 und 1945 Flüchtlingsministerien. Nachwanderung („Kettenwanderung“) ist auch für die bereits Angekommenen wichtig, denn sie können ihr individuelles nur zu „sozialem Kapital“ entwickeln, wenn sich eine community bildet.

Andererseits können besonders die von Kriegen oder Regimes Vertriebenen sich nicht vorbereiten, sondern müssen oft ihre Familie rekonstruieren oder das Trauma des Todes der Nahestehenden verarbeiten. Ohne Vorbereitung sind für sie das Finden eines Weges, Neuorientierung und Eingliederung sehr viel schwieriger. Oft möchten sie zurück – sollten es bessere Verhältnisse ermöglichen. Auch für viele nach eigener Entscheidung Ab- oder Auswandernde sind Entscheidungen nicht „frei“, sondern sie sind getrieben durch ökonomische Zwänge. Wenn es „zu Hause“ nicht genug Arbeit und Land gibt, müssen „Überzählige“ abwandern. Die nach Amerika gehenden Deutschen waren Wirtschaftsflüchtlinge. Manche gingen „zum Brot“ für ihre hungrigen Mägen, andere, die ein Auskommen aber wenig Optionen hatten, um größere Möglichkeiten zu erlangen, wieder andere, deren Leben und Kultur gefährdet waren, um mehr Sicherheit zu erlangen. Ziel waren nie „unbegrenzte Möglichkeiten“ – so ein Werbeslogan – sondern das Verlassen bekannter Unmöglichkeiten, wie der Historiker Walter Nugent es formuliert hat.

Bis zur Neuzeit waren die Lebensverhältnisse in Städten hygienisch so katastrophal, dass ohne Zuwanderer/innen ihre Bevölkerung abgenommen hätte. Auf dem Land bot in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts der elterliche Hof kaum Auskommen, doch in den „Gründerjahren“ nach 1880 boten Industrie und Bergwerke Arbeit. In diesen Jahrzehnten waren mehr als 50 % der Einwohner/innen aller großen und vieler mittlerer Städte anderswo geboren. In polemischen Debatten der Gegenwart wird oft behauptet: „die“ seien ja auch Deutsche gewesen und nicht Anatolier, Nigerianer oder Asiaten. Die Neuankömmlinge, die andere Dialekte sprachen und sich bäuerlich kleideten, galten jedoch als fremd und „bäurisch“, als Bedrohung für urbane „Zivilisierte“. Schon im Mittelalter wurde ausgegrenzt, wer durch Kleidung und Akzent nicht anders, sondern „fremd“ erschien. Wie in den Zeiten nach den Religions- und Weltkriegen, wird seit 2015 die Ankunft von Flüchtlingen aus den Kriegsregionen von Afghanistan und Syrien und anderswo intensiv und kontrovers diskutiert.

Migranten/innen und der Wechsel von Staat zu National-Staat

Migranten/innen überschreiten Grenzen, auch intern zwischen Land und Stadt oder zwischen Dialektzonen; gezählt wurden und werden sie jedoch oft nur an internationalen Grenzen. Dies hat in historischer Erinnerung dazu geführt, dass interne Migranten/innen oft übersehen und vergessen werden. Wichtiger als geografische, internationale Grenzen waren jedoch interne soziale und kulturelle Grenzen, die auch geschlechtsspezifisch wirken. Eine junge Frau, aus ländlichem Umfeld, die in frühneuzeitlicher oder industrieller Stadt Hausarbeit suchte, überschritt drei Grenzen: zwischen dörflicher und städtischer Lebensweise, zwischen landwirtschaftlichem und bürgerlichem Haushalt, zwischen bäuerlicher und urbaner Sprache. Sie musste Anpassung sofort leisten, wurde im Haus ihres Arbeitgebers unterbracht, hatte keinen Rückzugsraum. Ihre Brüder, ebenfalls in die Stadt gewandert, fanden Arbeit in „Nebengebäuden“ wie Stall und Gärten und wurden dort auch untergebracht – mag die Unterbringung auch schlecht gewesen sein, sie standen immerhin nicht unter unmittelbarer Kontrolle und hatten Freiraum. Später kamen für Frauen und Männer Fabrikunterkünfte, meist mit Aufsicht, hinzu.

Hinzu kamen weitere interne Grenz- oder Frontlinien: nichtzünftige als „Störer“ etikettierte Handwerker in der Frühen Neuzeit (FNZ), „die Schlesier“ in Berlin, „die Juden“ allgemein und andere mehr. Andererseits wurden „nützliche“ Fremde als Wirtschaftsbürger/innen inkorporiert, wie Juden einst in Osteuropa oder Hugenotten und Mennoniten in Preußen und anderswo und – in der Gegenwart – Arbeitskräfte per „green card“ oder „blue card“. Rassistische Grenzregimes diskriminieren Zuwanderer/innen mit unliebsamer Hautfarbe, kulturhierarchische zum Beispiel „Fremdarbeiter/innnen“ in Deutschland seit den 1880er Jahren (nach 1955 umbenannt in „Gastarbeiter/innen“) – ihnen wird ein Rotationsprinzip aufgezwungen, sie müssen das Zielland nach einem festgelegten Zeitraum wieder verlassen.

Einlass- und Aufenthaltsreglementierungen wandelten sich über die Jahrhunderte und zwingen Neuankömmlinge zu intensivem Kontakt mit Verwaltungen des Aufenthaltsgebietes. Im Mittelalter forderten Päpste und Herrscher Schutzgelder von Muslimen und Juden. In der FNZ mussten Händler und Kaufleute aushandeln, wo und wie lange sie welche Waren verkaufen durften oder bei Durchreise zum Kauf anbieten mussten (Stapelrecht). Im wilhelminischen Reich mussten osteuropäische saisonale Erntearbeiter/innen eine Legitimationskarte bei sich tragen. Hingegen war bei Ankunft in den USA vor 1914/17 bei Einreise nur gute Gesundheit und ein – relative kleiner – Mindestbetrag notwendig, legitimierende Dokumente nicht, ein Eintrag in „Schiffslisten“ (nach 1892 in der wichtigsten Einwanderungsstation, Ellis Island, New York) war ausreichend. Nach der Reformation 1517 verlor Religion besonders ab dem 19. und 20. Jahrhundert als Abwanderungs- und Aufnahmekriterium an Bedeutung; in der Gegenwart haben fundamentalistische, gewaltbereite junge Männer das Thema wieder in den Vordergrund gedrängt. Über Jahrhunderte waren Gesellschaften pluralistisch, wirtschaftende Subjekte, d.h. Steuer- oder Gebührenzahlende waren erwünscht.

Plurales Zusammenleben – nebeneinander und miteinander

In der Vergangenheit war Vielfalt, modern: „Pluralismus“, ein durch Gewohnheit geregeltes Nebeneinander, seltener ein integriertes Miteinander, gelegentlich konfliktträchtige Konkurrenz. Deutschsprachige Familien, d.h. solche, die verschiedene deutsche Dialekte sprachen, wanderten über Jahrhunderte in ländliche Gebiete in baltischen und Balkanregionen, wohin merkantilistisch denkende Herrscher sie als Fremde riefen. Nicht Homogenität, sondern vielkulturelles Nebeneinander war die Regel.

Zuwanderer/innen siedelten und siedeln aus praktischen Gründen meist nahe beieinander. So können sie Netzwerke bilden. Ethnisch-kulturelle Nachbarschaften sind soziale communities mit Läden für vertrautes Essen, mit Einrichtungen gegenseitiger Hilfeleistung (mutual aid societies) und mit Versammlungsräumen für Glaubenspraxis. Sie ermöglichen eine „weiche Landung“ – Erhalt der geschätzten Aspekte der Ausgangskultur bei gleichzeitigem Ablegen von Verhasstem wie Klassenschranken, politischer Maulkörbe, erzwungener Unterwürfigkeit. Gewolltes Zusammenleben war Teil der Lebensgestaltung auch der Arbeitsmigranten/innen der Industrialisierungsphase: In Berlin ließen sich aus Schlesien Kommende am Schlesischen Tor nieder, in New York Norddeutsche in Klein-Deutschland. Zuwanderer/innen kommen mit der Bereitschaft sich soweit anzupassen, dass sie sofort Arbeit finden können, denn ein Polster von Ersparnissen hatten und haben sie nicht. Sie adaptieren Neues in kleinen Schritten, um ihre Ziele zu verwirklichen: ausreichende Sprachkenntnisse für einen Job, Schulbesuch der Kinder, Umgang mit anderssprachigen Nachbarn. Das Ziel von Migranten/innen war und ist, auf eigenen Füßen zu stehen und Entscheidungen treffen zu können. Moderne sozialstaatliche Hilfe erleichtert diese Schritte.

Zentral für historische Erinnerung sowie für aktuelle Politikgestaltung ist die Analyse der Prozesse. Ebenso wichtig sind genaue Begrifflichkeiten. „Migrationen“ oder „Wanderungsvorgänge“ sind zeitlich offen: auf Zeit, regelmäßig saisonal, einmalige dauerhafte Ab- und Zuwanderung mit Niederlassung am Ziel (Ein- und Auswanderung), Etappenwanderung von einem Ort zum nächsten, für eine Lebensphase oder ein gesamtes Leben. Wer nach vielen Jahren zurückkommt, ist Rückwanderer/in mit neuen Erfahrungen. Wenn eine Umkehr der Wanderungsrichtung nach Generationen erfolgt, handelt es sich um reverse migration: Die Nachkommen früherer Migranten/innen kehren nicht in ihre Ausgangsgesellschaft zurück, sondern bewegen sich in einer ihnen fremden Gesellschaft. Dies war der Fall bei der Umsiedlung der Nachfahren deutschsprachiger Migranten/innen aus „dem Osten“ unter dem deutschen Faschismus, es war auch der Fall bei der Spätaussiedlung der „Russland-Deutsche“ Genannten. In der Bundesrepublik wurde 2015 angesichts der vielen Kriegsflüchtlinge ein „Einwanderungsgesetz“ debattiert: jedoch will ein Teil der Zuwanderer/innen weiterwandern, sie werden schnell oder nach einigen Jahren zu Abwanderern/innen; deutsche Staatsangehörige wandern aus, EU-Bürger/innen wandern zu. Nötig ist eine gesetzliche Regelung von Zu- und Abwanderung, ein Migrationsrahmen.

Frühneuzeitliche Migrationen

Zu den Migrationen in der Frühen Neuzeit (etwa 1500 bis 1800) gehören

Wanderungen der Gesellen im Handwerk

Migrationen von Bergarbeitern

Auswanderung in den Söldnerdienst, Armeezüge und Erdarbeiten, wie der Bau von Stadtmauern und anderen Befestigungen, oft für saisonale Sommer- und Herbstkriege oder mehrjährige Kriegsführung

Migrationen von Händlern und Kaufleuten, einschließlich Fuhrleute und andere Transportarbeiter

Elitemigrationen: Heiratsmigration, diplomatische Missionen, Bildungsreisen (Kavalierstour); Mobilität im Zusammenhang mit Herrschaft und Verwaltung (Diplomatische und Herrschafts-Migration, Hof- und Heiratsmigration)

wissenschaftliche Migrationen von Gelehrten und Studierenden

religiöse Flüchtlingsmigrationen,

Pilgerreisen, Exil, andere.

Ländliche Migrationen: Migrationen in ländliche Regionen und in die Städte veränderten die Bevölkerungszusammensetzung kontinuierlich. Ländliche Gesellschaften wurden als stabil angesehen oder konstruiert: im Boden verwurzelte Bauern, einfaches „Volk" mit seinen Bräuchen, Geschichten und Ritualen. Dieses Bild hatte und hat keinen Bezug zum tatsächlichen Landleben. Wenn alle landwirtschaftlich nutzbaren Flächen in einer Mikroregion besiedelt waren und das Land einer Familie nur ein Paar ernähren konnte, konnten nicht mehr als zwei Kinder bleiben. Außerdem wuchs nach der Besiedlung kultivierbarer Regionen, die Kinder-Mitarbeit erforderte, die Bevölkerung oft schneller als die Anbauflächen. Gleichzeitig entwickelten junge Männer und Frauen Erwartungen jenseits der Zwänge des Dorflebens. Sie wanderten in der Regel in nahe Marktorte, Städte und Metropolen. Dies setzte Entscheidungsfindung in familiären Zusammenhängen voraus, in denen Väter jedoch mehr Macht hatten als Mütter und Kinder. Ländliche Migration spiegelt auch wirtschaftliche Zwänge wider: Lasten wurden von adeligen Grundherren oder Klöstern auferlegt oder Stadtbürger erwarben Höfe, um sie großflächig zusammenzulegen. Auch Erbschaftsmuster bestimmten Migrationsmuster. Wenn der erste Sohn erbte und die erste Tochter eine Mitgift erhielt, mussten alle anderen Geschwister entweder mit einem Teil des Erbes oder nur mit ihrer Arbeitskraft und ihren Fähigkeiten abwandern. In den meisten südwestdeutschen Ländern und der Eifel, wo alle Kinder gleichermaßen erbten, waren die kleinen Höfe im 19. Jahrhundert so weit unterteilt, dass alle Kinder sich zumindest saisonal durch zusätzliches Lohneinkommen in der Ferne versorgen mussten. Schon im 17. und 18. Jahrhundert wanderte in Deutschland, wie auch in Frankreich und England, ein Drittel bis zur Hälfte aller Menschen mindestens einmal im Leben.

Städtische Zuwanderung und interurbane Mobilität: Städte und Gemeinden brauchten eine kontinuierliche Zuwanderung, um die Bevölkerungszahl auch nur zu halten, da die Sterblichkeitsraten angesichts der schlechten sanitären Bedingungen sehr hoch waren. Das treffende, aber abstrakte Konzept „städtischen Wachstums“ verdeckt die hohe Mobilität. Frankfurt am Main zum Beispiel wuchs von 1500 bis 1600 von 11.500 auf 20.000 Einwohner, nahm bis 1650 um mehr als 3.000 ab und erreichte bis 1700 27.500. In diesen beiden Jahrhunderten trug die natürliche Zunahme – die Geburten – nur in zwei Jahrzehnten zum Bevölkerungswachstum bei. Im Jahr 1600 machten mehrere tausend wandernde Handwerksgesellen, 3.000 niederländische protestantische Zuwanderer aus der Mittelschicht und 2.500 Juden aller Schichten mehr als vierzig Prozent der Einwohner aus. Zugewanderte Frauen, die als Hausangestellte in bürgerlichen Haushalten arbeiteten, sind in diesen Zahlen nicht einmal enthalten. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts waren nur 15 Prozent der in der Stadt ansässigen Handwerksgesellen dort geboren, die meisten kamen aus der näheren Umgebung (32 Prozent), aus süddeutschen Fürstentümern und aus Österreich (24 Prozent).

Handwerksgesellenwanderungen: Die zünftigen Wanderungen von Handwerksgesellen umfassten mehrere Jahre und sie konnten durch Geschäftsübernahme oder Heirat in einer fernen Stadt permanent werden. Das hohe Ausbildungsniveau der Zünfte führte zu Nachfrage nach Gesellen in fernen Regionen ohne Lehrlingssystem. So entwickelten die Wandergesellen Routen weit über den deutschsprachigen Raum hinaus.

Wanderungen von Bergleuten: Eine weitere Gruppe hoch qualifizierter Arbeiter waren Bergleute. Sie reisten auf eigene Faust zu neu entdeckten Erzvorkommen und expandierenden Minen oder wurden angeheuert, um zu kommen. Die Ausbildung im Harz, im Erzgebirge oder im alpinen Bergbau vermittelte den jungen Männern Fertigkeiten, die weithin bekannt und geschätzt waren. Wenn Bergwerksbetreiber aus der Ferne nach ihnen schickten, wanderten sie oft mit ihren Familien aus.

Kaufleute, die in transeuropäischen – und transatlantischen – Netzwerken operierten, konnten beschließen, sesshaft zu werden. Nürnberger Kaufleute ließen sich in Posen (Poznan) und in Krakau nieder, norditalienische Kaufleute gründeten in Köln eine Gemeinschaft. Wo immer eine community, manchmal auch „Kolonie“ genannt, entstand, folgten Ladenbesitzer und Herbergswirte, Arbeiter und Handwerker. Einige zogen zwischen ihrer, zum Beispiel italienischen oder polnischen und deutschen Heimat hin und her, andere kehrten nach Jahren der Abwesenheit dauerhaft zurück, wieder andere heirateten einheimische Frauen, gründeten Familien und zogen gemeinsam Kinder groß: Sie begannen einen Prozess der Akkulturation von Zuwanderer/innen zu Einheimischen. Kauffamilien entwickelten Fernkontakte durch Familienbeziehungen: Junge Männer arbeiteten als Kontoristen und Vertrauenspersonen in entfernten Korrespondenzfirmen; Töchter und Söhne verbanden durch Heirat ihre Familien über große, auch transatlantische Distanzen. Der Warentransport erforderte mobiles Personal, das in Herbergen in der Fremde mit lokalem Personal kommunizierte. All diese Migranten bewegten sich innerhalb einer Berufsgruppe und ihres ökonomischen Sektors. Ihre Enklaven in anderssprachigen Kulturen konnten über lange Zeit erhalten bleiben; Rückkehrende gaben derweil Informationen über Optionen in der Ferne an Sesshafte weiter.

Herrscher/innen und Kleriker: Auf der Ebene der politischen und kirchlichen Eliten vermittelt jede mediale Darstellung, besonders auch Portraits von scheinbar territorial festsitzenden Herrscherfamilien, Wanderungsinformationen: Porträtierte Söhne ziehen als Militärs durch die Lande, Töchter heiraten an andere Höfe. Um ihre vertraute Kultur leben zu können, nahmen sie eine Entourage – eine Art community – mit. Dies war Teil der transeuropäischen Adelskultur, doch wurden manche als Fremdsprachige in höfischen Fraktionskonkurrenzen ausgegrenzt. Mit Beginn des Sklavenhandels galten gebildete Menschen aus Afrika als „exotisch“-wertvoll und manche sind als Pagen auf diesen Portraits sichtbar. Nur wenige, wie Anton Wilhelm Amo (europäischer Name) aus Guinea, der nach Halle gebracht wurde, hatten jedoch die Möglichkeit, sich zu bilden.

Portraits von Klerikern zeigen eine hochmobile Gruppe, die je nach Personalbedürfnissen der Kirche entsandt wurden oder sich auf eine einträgliche „Pfründe“ setzen ließen. Höfische und bischhöfliche Wanderungen betrafen, in absoluten Zahlen, wenige, Migranten waren in diesen Berufsgruppen jedoch die Mehrheit.

Militär- und Heeresmigration: Herrscherportraits zeigen diese oft mit ihren Armeen, die aus angeheuerten, mobilen Söldnern bestanden. Arbeitsmigranten für den Kriegsdienst verdingten sich dort, wo sie Lohn fanden. Waren sie arbeitslos, zogen sie als Marodeure durchs Land und so entstand durch zeitgenössische Medien und mündliche Überlieferung das Feindbild „Landsknecht“. Viele darunter waren Schweizer Bauernsöhne, für die es in den engen Alpentälern kein Land gab. Für spezifische Aufgaben – Bogenschützen oder wendige Reiter – wurden nach (vermuteter) Herkunftsregion benannte „Griechen“ oder „Serben“ angeheuert. Nationale Identitäten waren damit nicht gemeint, konnten aber in der Phase der Nationalismen schnell auf die Gesamtheit einer kulturellen Gruppe übertragen werden. Wurden Söldner ohne Rückführung de-mobilisiert, ließen sich manche lokal nieder – aus Fahrenden wurden Sesshafte. Da die Heere oft von den Frauen und Kindern begleitet wurden, dem sog. Tross, war Teil dieser Mobilität Familien-, Partnerschafts- oder Sexarbeits-Wanderung.

Flüchtlingswanderungen: Heere „verheeren“ und Kriegszüge verursachen Flüchtlingstrecks. In der Zeit der Religionskriege, besonders während des 1. Gesamteuropäischen, „Dreißigjährigen“ Krieges (1618-1648), betraf dies die Menschen im zentraleuropäischen Raum; in der Zeit des 2. Gesamteuropäischen Krieges (1789-1815) mit seinen anti-revolutionären, revolutionären, napoleonisch-imperialen und restaurativen Phasen Menschen im gesamten Europa. Fundamentalisten der Kirche, oft gemeinsam mit Herrscherfamilien, grenzten Andersdenkende als „Häretiker“ aus und zwangen sie zur Flucht. In den deutschsprachigen Raum kamen balkanische Bogumilen, südfranzösische Albigenser („Katharer“) und Waldenser, niederländische Protestanten. Trotz des Augsburger Religionsfriedens generierten Bekenntnisdogmatiker weiterhin Religionsflüchtlinge: vor der Rekatholisierung durch die Habsburger flohen die „Böhmischen Brüder“ samt ihren Schwestern und Familien nach Berlin; Hugenotten flohen aus Frankreich, Mennoniten aus Westfalen und den Niederlanden. Nachdem im Dreißigjährigen Krieg ein Drittel der 1618 Lebenden umgekommen waren, mussten entvölkerte und verwüstete Gebiete wiederbesiedelt werden. Aus Orten mit wenigen Überlebenden mussten diese in noch bestehende Kommunen abwandern, um soziale Bedürfnisse wieder aufbauen zu können. Die Kriegs- und Kriegsfolgenwanderung sollte sich noch oft wiederholen: durch den Angriff auf Frankreich 1871, den 1. Welt- und 3. Gesamteuropäischen Krieg, den 2. Weltkrieg, Vietnamkrieg, Jugoslawienkrieg, die Afghanistan- und Syrienkriege.

Migranten/innenanwerbung, Humankapital: Manche Herrscher luden Flüchtende ein. Sie warben um Humankapital, halfen meist bei der Ansiedlung und rechneten – richtig – damit, dass die Neuankömmlinge zur Wirtschaftskraft des Staates beitragen und Steuern zahlen würden. Im 13. Jahrhundert hatten polnische und litauische Fürsten „die Juden“, die aus fast allen deutschen kleineren und größeren Staaten vertrieben wurden, eingeladen. Das protestantische Preußen nahm aus katholischen Herrschaftsgebieten Vertriebene auf. Sie alle galten als Bereicherung, als Aktivposten. Anwerbung von Menschen mit Humankapital ist auch in der Gegenwart noch üblich.

Vertreibung „der Juden“, Verlust an Wirtschaftsleistung: Vertreibungen „der Juden“ seit dem 13. Jahrhundert betrafen Menschen deutscher Sprache jiddischen Dialektes, die von Nationalisten im ausgehenden 19. Jahrhundert als „fremdrassig“ bezeichnet wurden. Sie akkulturierten sich und bildeten die deutsch-polnisch/russische jüdische Kultur der Aschkenasim. Aus iberisch-katholischen Kulturen wurden um 1500 Menschen jüdischen – wie auch muslimischen – Glaubens vertrieben, sie sprachen einen Dia- oder Soziolekt des Spanischen und entwickelten die sephardische Kultur. Von ihnen siedelten sich einige in den Niederlanden an und migrierten von Amsterdam nach Glückstadt und Altona an der Elbe (damals dänisch). Ihre Gemeinden bestanden bis ins späte 19. Jahrhundert. Aschkenasim, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im zaristischen Russland durch Pogrome und Nationalisierung verfolgt, migrierten in die USA oder, wenn Mittel fehlten, nach Berlin, Paris und London.

Anfänge von Auswanderung: Donauraum, Südrussland, Pennsylvania, Lateinamerika

Die historische Erinnerung an Migration klammert gewöhnlich nicht nur interne Mobilität aus, sondern ist auch in Bezug auf „Auswanderung“ auf das 19. Jahrhundert und den Topos „nach Amerika“ beschränkt. Jedoch hatten in Europa ländliche Menschen ohne Land und Perspektiven feuchte Niederungen kolonisiert oder gebirgigen Regionen ihren Lebensunterhalt abgerungen. Aus dem Südwesten zogen Familien seit den 1760er Jahren die Donau hinab in südrussische Gebiete. Andere wählten William Penns Wälder, Pennsylvania. Sie alle blickten zurück auf Landarmut und Elend, kaum je auf romantisch verklärte „Heimat“, und sie blickten nach vorn, waren unternehmungsbereit.

Kolonisierung weit entfernter verlassener Gebiete: Berichte über „Neuland“ jenseits des Atlantiks weckten zunächst das Interesse von Finanziers und militärischen Abenteurern und später von Siedlern. Unter Kaiser Karl V. (reg. 1519-1556) begann die Migration nach Spanisch- und Portugiesisch-Amerika. Um die Kosten zu decken, gewährte er dem Augsburger Familienunternehmen Welser das Monopol zur Ausbeutung Venezuelas, einschließlich der Kupfererze. Die Finanziers schickten ab 1528 deutschsprachige Bergleute sowie afrikanische Sklaven in die Region. Das groß angelegte Siedlungsprojekt scheiterte schnell wegen der Raubgier der Europäer. Andere militärische Abenteurer überquerten den Südatlantik nach Brasilien und ins Delta des Río de la Plata (heute Argentinien). Einige wenige hinterließen Berichte über ihre Erfahrungen, diese wurden gedruckt und verbreitet und trugen dazu bei, wie die Region und „die Indianer“ bei den Lesern wahrgenommen wurden und beeinflussten wesentlich später auch die Auswanderung.

Die Migration nach Nordamerika, d.h. anfangs besonders in das anglophone Pennsylvania, das religiöse Zuflucht bot, begann in den 1680er Jahren aus Südwestdeutschland, den deutsch-schweizerischen Kantonen und dem Elsass. Die ersten Ankömmlinge waren Bauernfamilien, die ihren Besitz verkauft hatten, um sich unter besseren Bedingungen auf fruchtbareren Böden niederzulassen. Bald hofften aber auch arme Männer und Frauen, ihr Los zu verbessern, doch da sie ihre Überfahrt nicht bezahlen konnten, mussten sie ihre Arbeitskraft an einen Schiffskapitän verkaufen und wurden als indentured servants (Schuldknechte, Schuldmägde) nach ihrer Ankunft versteigert. Sie lösten ihre Freiheit durch sieben Jahre Zwangsarbeit ein (redemptioners). Etwa zwei Drittel der ca. 75.000 bis 100.000 Migranten vom 17. Jahrhundert bis zum Ende des Regimes in den 1820er Jahren kamen unter diesen Bedingungen. Als in den 1750er Jahren die britische Regierung das katholisch-französische Acadia annektiert und in Nova Scotia umbenannt hatte, rekrutierte sie aus ihren Besitzungen in Braunschweig-Lüneburg und später auch aus Schweizer Kantonen etwa 1.500 „ausländische Protestanten“. Während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges kauften die britischen Kolonisatoren Tausende von Soldaten von hessischen Fürsten. Von denen, die überlebten, desertierten einige und ließen sich nieder, die anderen kehrten nach Hessen zurück, darunter auch rekrutierte befreite Sklaven.

Innerhalb Europas rekrutierten sowohl die hohenzollernsche wie die habsburgische und zaristische Regierung im Rahmen ihrer merkantilistisch-militärischen Politik ländliche Familien zur Besiedlung bestimmter Regionen. Diese sogenannte „deutsche Ostsiedlung“ bedarf der Kontextualisierung, denn die Regionen waren besiedelt. Im Norden handelte es sich um Expansion in polnisch-litauische und baltische Regionen, im Süden um Folgen der Feldzüge der Habsburger gegen die Osmanen. In den Kriegen gegen die Osmanen kämpften zehntausende Österreicher, Bayern, Brandenburg-Preußen, Sachsen, Schwaben, Rheinländer und Braunschweig-Lüneburger. Sie vertrieben die muslimischen Untertanen der Osmanen und manche siedelten sich an und ließen ihre Familien nachkommen. Deutsch diente als administrative lingua franca, die Germanisierung verbliebener ansässiger Eliten wurde im späten 18. Jahrhundert forciert. Entlang der Donau siedelten sich schwäbische und sächsische, aber auch serbische und rumänische Bauernfamilien an und enteigneten dabei die ansässige Bevölkerung. Zarin Katharina II., selbst eine Einwanderin aus dem Fürstentum Anhalt-Zerbst, öffnete die südrussischen Ebenen für die Besiedlung. Ihr Dekret von 1763 bot kostenloses Land, zinslose Darlehen zum Erwerb von Arbeitsgeräten, Selbstverwaltung und Religionsfreiheit. Im „Neuen Russland“ entlang der Wolga bildeten deutsch-, jiddisch-deutsch- und schwedisch-sprachige Siedler kompakte Kolonien mit Sonderrechten, wobei sich die Deutschsprachigen rigoros in Protestanten, Katholiken und Mennoniten teilten.

Migrationen: transeuropäisch und global im 19. Jahrhundert

In den Jahrzehnten von 1815 bis in die 1880er Jahre wanderten zunehmend mehr ländliche Menschen aus Regionen ohne Optionen ab, nach Mitte des Jahrhunderts auch aus den Städten. Innerhalb Europas schickten zum Beispiel Bauernfamilien in Tirol und Vorarlberg ihre Kinder, die sie nicht ernähren konnten, jährlich im Frühjahr als Hütejungen oder Hausdirnen („Schwabenkinder“) nach Süddeutschland. Junge Männer wanderten saisonal im Rhythmus der Erntearbeit.

Die überwiegende Mehrzahl der Auswanderer/innen wählte Nordamerika als Ziel – von ihnen kehrten jedoch etwa 18 Prozent zurück. Weitaus weniger wanderten nach Südamerika aus. Letztere ließen sich, wie in Russland, in kompakten Kolonien nieder, ohne Bedarf und Bereitschaft zur Akkulturation. Von den europäischen Migranten in die USA zog bereits in den 1840er Jahren nur ein Drittel in ländliche Regionen, zwei Drittel dagegen in die rapide wachsenden Städte. In den 1890er Jahren zogen 95 % aller Einwanderer in die Städte. Die Mehrzahl der Einzelwander/innen war jung, Männer zogen oft kurz vor der Einberufung zum Militärdienst ab. Sie und junge Frauen wanderten getrennt voneinander zu Orten mit Arbeitsmöglichkeiten, über die früher gewanderte sie informiert hatten.

Nordamerika: Von den ca. 7 Millionen Männern, Frauen und Kindern, die im „verschobenen“ 19. Jahrhundert (1815-1914) die vielen deutschen Dialektregionen verließen, wählten rund 90 Prozent die USA und 2 Prozent Kanada als Ziel. Sie kamen anfangs weiterhin aus dem Südwesten, dann aus Hessen und dem Rheinland, später aus Norddeutschland und schließlich aus den östlichen Gebieten, einschließlich der seit den 1790er Jahren annektierten bilingualen Gebiete Polens. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, in Ostelbien länger, benötigten potenzielle Migranten/innen die Zustimmung einer Behörde oder des Großgrundbesitzers. Sie zogen jedoch oft ohne Abmeldung weg und waren die „Illegalen“ der damaligen Zeit. Sie verließen unerträgliche feudale Bedingungen als „Wirtschaftsflüchtlinge“.

Die Reise umfasste drei Etappen: Anfahrt zum Ausreisehafen in den Niederlanden und seit den 1830er Jahren Bremen und Hamburg (oft mehrere Wochen), Atlantiküberquerung (in der Segelschiffperiode sechs bis zwölf Wochen oder länger), Fahrt zum Zielort. Seit den 1870er Jahren verkürzten Dampfschiffe die Seereise auf zwölf, um 1900 auf sieben Tage. Höhepunkte erreichte die Auswanderung aus den Gebieten des (späteren) Deutschen Reiches mit mehr als je einer Million 1846-1857 und 1864-1873 und 1,8 Millionen zwischen 1880 und 1893. Ab 1893 bot die im Deutschen Reich entstandene Industrie ausreichend Arbeitsplätze, so dass bis 1914 nur noch 20-40.000 Menschen jährlich auswanderten. Etwa 10-15.000 pro Jahr wanderten zurück, sie waren „Gastarbeiter“ gewesen. Im Reich wurden aus Arbeitskräftemangel bereits seit den 1880er Jahren in Landwirtschaft und Industrie Männer und Frauen aus Polen, Ruthenien und Italien als Arbeitskräfte angeworben.

Zu den Deutschsprachigen in Nordamerika zählen auch die aus Österreich und der Schweiz ausgewanderten, die sich jedoch meist in eigenen kulturellen Verbänden organsierten. Bis in die 1870er Jahre migrierten zwischen 150.000 und 180.000 Menschen jüdischen Glaubens aus Zentraleuropa in die USA, aus Deutschland jedoch, angesichts ihrer bürgerlichen Integration, kaum. In den 1880er Jahren begann infolge der Pogrome die Massenauswanderung jiddisch-sprachiger Juden aus dem Zarenreich. „Die Deutschen“ bildeten – wie „die Iren“ – in Nordamerika zwei getrennte Gruppen, geschieden nach katholischer oder protestantischer Konfession. Mennoniten sowie Amische siedelten separat, besonders in Pennsylvania, Ontario und Manitoba.

Als kontinuierlicher Abwanderungsdruck wirkten angesichts der Bevölkerungszunahme Ernährungs- und Teuerungskrisen und unzureichende industrielle Arbeitsmärkte. Informiert durch zeitgenössische Telekommunikation, Briefe und Rückwanderer/innen, wanderten die Männer und Frauen einer Mikroregion in eine ebenso kleine städtische oder ländliche Nachbarschaft zu Bekannten, denn dort konnten sie sich ohne Brüche niederlassen. Potenzielle Migranten/innen informierten sich genau über die Bedingungen am Ankunftsort: Auf Rezessionen folgte Rückgang der Einwanderung. In ihren Briefen betonten sie, dass in Nordamerika kein Kirchenzehnt zu zahlen sei, die Steuern niedriger, das Ackerland billiger und die Arbeitsmärkte besser waren und lokale Beamte würden gewählt und nicht von oben eingesetzt: Auswanderung war auch ein politisches Projekt. Zwar entstand im deutschen Sprachraum eine Sequenz positiver Amerikabilder: republikanisch-demokratischer Staat, reichliches und billiges Land, dynamische wirtschaftliche Entwicklung – aber die Entscheidung auszuwandern folgte nie einem vagen Amerikabild.

Frauen schufen sich eigene Netzwerke, arbeiteten als Dienstmädchen, als Näherinnen oder in Fabriken. Eine Position als Dienstmädchen in einer – amerikanischen – Familie ermöglichte schnelle Akkulturation und sparte Miete und Beköstigung. Trotz der sehr niedrigen Löhne konnten so viele junge Frauen Geld sparen und sie betonten in ihren Briefen, dass in Amerika Heirat ohne Mitgift üblich war. Ihre im amerikanischen Rechtssystem und in den gesellschaftlich definierten Geschlechterrollen bessere Position zeigte sich auch an den, im Vergleich zu Männern, geringeren Rückwanderungsraten.

Das Ende der Massenwanderung 1893, bei gleichzeitiger Sozialisation der Kinder in amerikanischen Schulen, bedeutete eine Verringerung des Kontaktes zu Familien und Freunden in der Ausgangs-Mikroregion („Heimat“). Parallel stand das Bewusstsein, dass zur Erreichung von Lebenszielen Engagement in der neuen Gesellschaft notwendig war. Bis in die 1890er Jahre zeigten die deutsch-amerikanischen communities, sowohl evangelisch als auch katholisch, hohe Dynamik und Flexibilität mit hoch entwickeltem Zeitungswesen und sozialen Hilfs- und Kulturvereinen. Mit Abnahme der Neuzuwanderung begann eine Konsolidierungsphase und um 1910 war die Eingliederung – Amerikanisierung – weit fortgeschritten. Die in nationalistischer deutscher Erinnerung behauptete Zerstörung der Gruppe durch die Repressionen während des 1. Weltkrieges ist Unsinn. Stagnierende Institutionen lösten sich schlicht auf und die Nachkommen der Zuwanderer/innen hatten – mit Ausnahmen – kein Interesse, den wilhelminischen Militarismus zu vertreten.

Auswanderung nach Mittel- und Südamerika begann nachdem die napoleonische Besetzung Spaniens dessen Kolonialherrschaft geschwächt hatte und Gesellschaften von Mexiko bis Argentinien ihre Unabhängigkeit erkämpfen konnten. Die etwa 400.000 Menschen (etwa 5 Prozent aller Auswanderer/innen) migrierten in Phasen. Nach 1816/17 für ein Jahrzehnt besonders nach Brasilien und infolge der europäischen Agrarkrise von 1846/47 wiederum für nur ein Jahrzehnt. Erst in einer dritten Phase, 1866 bis 1900, kamen bis zu 17.000 jährlich. Wie im Fall der Osteuropa-Wanderung bedeutete gestaffelte Zuwanderung, dass jede neu ankommende Kohorte ein sozio-ökonomisch und kulturell anderes Deutschland verließ und mit eigenem Profil kam. In den beiden großen Zielstaaten, Brasilien und Argentinien, siedelten die Kohorten darüber hinaus in unterschiedlichen Regionen. Die geografische (Selbst-)Isolierung vieler landwirtschaftlicher Kolonien machte sie zu Inseln deutscher Kultur, die, frozen in time, auch Separation von der Modernisierung Deutschlands bedeutete. Die urbane Zuwanderung umfasste Kaufleute, Bankiers und Unternehmer, aber auch Ingenieure, Offiziere und Wissenschaftler – sie bildeten eine kleine Gruppe mit großem wirtschaftlichem Einfluss und bewegten sich oft im Rahmen traditioneller Wirtschaftsbeziehungen.

Die Auswanderung nach Australien und Neuseeland blieb gering. Wie innerhalb Europas wanderten anfangs einzelne Experten, z.B. Landvermesser und Astronomen, in Regierungsdienste; Forschungsreisende und Missionare; Mitglieder einer altlutherischen Gemeinde, die sich dem brandenburgischen Staat entziehen wollten. Erste agrarische Siedler wurden ob ihrer Fachkenntnisse angeworben, insbesondere Winzer als Pioniere für Weinanbau in New South Wales und South Australia. Im Zuge klassenspezifischer, internationalistischer Mobilität kamen Zigarrenarbeiter, die ihre Route Hamburg/Bremen-Kuba-Manila (Philippinen) nur geringfügig ausweiten mussten.

1880er Jahre – 1914: Nationalisierungen, Kolonien, Transitwanderung

Seit den 1870er und 1880er Jahren begannen die Staaten der nordatlantischen Welt und Osteuropas eine Phase intensiver nationalistischer Diskurse und Politiken. Einwanderer ebenso wie Alteingesessene anderer als der neuen nationalen Kulturen wurden als „Minderheiten“ zunehmend ausgegrenzt und oft zur Auswanderung gezwungen. Männer und Frauen mussten ihre Entscheidungen über Lebensziele und Migration nach diesen veränderten ideologischen und nationalstaatlich-gesetzlichen Vorgaben treffen. Rassenideologien, gestützt durch pseudowissenschaftliche Publikationen, betrieben Ausgrenzung von solchen, die sie als „undeutsch“ oder „fremdrassisch" ansahen. Rassenideologen in den USA sahen auch „Deutsche“ als „unassimilierbar“ an. Unter der nationalistischen Ideologie galten im Deutschen Reich Auswanderer/innen als „Deutsche in der Fremde“ und Zuwanderer/innen als „Fremdarbeiter“.

Doch erforderten im Reich der Hohenzollern – wie in dem der Habsburger – Industrialisierung und Großlandwirtschaft Arbeitskräfteimport aus „fremdkulturellen“ angrenzenden Gebieten. Im Rahmen eines neuen Chauvinismus wies Preußen 1885 Arbeitsmigranten/innen polnischer Kultur mit Staatsangehörigkeit in den russischen oder habsburgischen Nachbarimperien aus: Das Deutsche Reich führte Beschränkungen ein, als sie in den USA erst diskutiert wurden. „Fremdarbeiter“ mussten nach dem Rotationsprinzip das Land im Winter verlassen. Zum einen wurde dadurch versucht eine Akkulturation zu verhindern, zum anderen benötigte die Großlandwirtschaft keine Arbeitskräfte im Winter und wollte keine Löhne zahlen. Da in Industrie und Bergbau Arbeitskräfte eingearbeitet werden mussten, handelten Unternehmer ein Recht auf Daueraufenthalt für „ihre“ „Ruhrpolen“ genannten Arbeiter/innen aus. Knapp 4 Prozent der insgesamt 64,9 Millionen im Deutschen Reich (1910) waren polnisch-sprachig.

Auch aus anderen Nachbarstaaten kamen Arbeiter/innen: Laut Zensus von 1907 340.000 deutsch-, polnisch- und ruthenisch-sprechende Menschen aus Österreich-Ungarn, 201.000 Russen, Baltendeutsche, Polen und Litauer aus dem Zarenreich, 126.000 Italiener, 52.000 Niederländer, 27.000 Schweizer, je ca. 10.000 Dänen und Franzosen sowie eine geringere Anzahl aus anderen Staaten. In den national-dynastisch umgestalteten Vielvölker-Imperien verloren die einst als „nützlich“ angeworbenen (oder annektierten) Menschen die Möglichkeit, ihre eigene Sprache und Religion zu praktizieren. Aus einem Auswanderungsland (mit gleichzeitiger Zuwanderung) wurde das Reich zu einem Arbeitskräfte-Einfuhrland. In den Jahrzehnten von den 1870er Jahren bis 1914 und der zunehmenden Sorge der herrschenden Bürokraten vor einem selbstbewussten Proletariat – eigenkulturellem wie fremden – begannen Staaten damit, mit politischer Überwachung Einwanderungsbegrenzungen und Ausschlussmaßnahmen durchzusetzen.

Parallel zu diesen migratorischen Entwicklungen strebte das – gerade 10 Jahre alte – Deutsche Reich eine Position als Kolonialmacht an und annektierte im Einvernehmen mit und Konkurrenz zu den anderen Kolonialmächten afrikanische Gesellschaften. Politisch sollte Auswanderung in die Kolonien umgesteuert werden, denn deutsche Siedlungskerne sollten die Kontrolle Einheimischer übernehmen und die wirtschaftliche Ausbeutung sichern. Doch folgten nur wenige dem Ruf „nach Deutsch-Südwestafrika“ oder „nach Deutsch-Ostafrika“. Das Vertrauen in die Regierungspropaganda war gering und die Mehrzahl blieb bei den vertrauten Routen „nach Amerika“. In den Kolonien setzten deutsche Militäreinheiten umfangreiche Zwangsmigrationen durch.

1914/18-1945/50-1955: Kriege – Zwischenkrieg – Krieg und Holocaust – Displaced Persons und Flüchtlinge

Mit den Kriegserklärungen 1914 wurde Europa für ein halbes Jahrhundert zu der Weltregion, welche die meisten Flüchtlinge generierte. Gleichzeitig führten fast alle Staaten im atlantischen Raum rigorose Zuwanderungsbeschränkungen und -kontrollen ein: Visazwang, Passzwang – und Ausweisungen. Die Grenz- und Staatsbürgerschaftsbürokratien entstanden als Teil der National-isten-staaten.

Mit Kriegsbeginn wurden die 1,3 Millionen Fremdarbeiter/innen im Deutschen Reich durch Ausreiseverbot zu Zwangsarbeiter/innen. Während und nach dem Ersten Weltkrieg 1914-18 befanden sich Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter/innen sowie durch Armeen vertriebene im Transit. Bis zum Kriegsende stieg die Zahl der als Zwangsarbeiter/innen im Deutschen Reich festgehaltenen Ausländer/innen, einschließlich Kriegsgefangener und zufällig bei Kriegsbeginn anwesender „Russlanddeutscher“, auf 2,5 Millionen. Sie machten ein Siebtel aller Arbeitenden aus: internationalisierte Arbeiterschaft für den national-imperialen Krieg. Sie mussten nach 1918 zurückwandern zu ihren Familien – wenn diese überlebt hatten. Die Massenrekrutierung im zweiten Deutschen Reich diente als „Lernprozess“ für die Verwalter von Arbeitskraft, die im Dritten Deutschen Reich den „Ausländereinsatz“ des nächsten Weltkrieges organisieren würden (Ulrich Herbert).

Die Grenz- und Bevölkerungsplaner in Versailles verschoben 1918/19 Grenzen über seit Generationen ansässige Menschen hinweg. Grenzlinien, die Kulturgruppen klar voneinander getrennt hätten, waren angesichts der Jahrhunderte langen Migrationen und kulturell gemischten Siedlungen unmöglich zu ziehen. Im gesamten Europa überschritten etwa 5 bis 10 Millionen Menschen unfreiwillig die sie ausschließenden neuen Grenzen in Richtung auf den Staat der ihnen zugeschriebenen „Nationalität“ oder, wie polnisch-sprachige Reichsbürger aus dem Ruhrgebiet, nach Frankreich, wo die Diskriminierung geringer war. An den Massenabwanderungen waren bis 1923 etwa eine Million Deutsche beteiligt: 150.000 aus Elsass-Lothringen, etwa 850.000 aus dem neuen polnischen Staat. Sogenannte „Grenzlandvertriebene“ wurden in „Heimkehr“-Lagern untergebracht. Aus den ehemaligen Kolonien kamen weitere 16.000.

Deutsche, gleich ob sie den Krieg gewollt und ihm zugestimmt hatten oder nicht, standen 1918 vor den Trümmern ihrer Gesellschaft. Der Kaiser samt Familie reiste aus, 1923 erreichte die erneute Auswanderung bei gleichzeitiger Hyperinflation ihren Höhepunkt. Sie fand mit Weltwirtschaftskrise und nationalsozialistischer Machtergreifung ein Ende. Rund 420.000 Menschen verließen die Republik, darunter nur 7.000 jüdischen Glaubens. Die Bevölkerung blieb mehrkulturell: laut Zensus von 1925 gab es 700.000 Polnisch, 63.000 Masurisch, 71.200 Wendisch, 19.000 Tschechisch, 7.100 Dänisch und 4.000 Litauisch sprechende.

Die Weimarer Republik erreichten Revolutions- und Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Zarenreich. 1922/23 lebten im Reichsgebiet etwa 600.000, überwiegend wohlhabender und gebildeter Herkunft (Elitenflucht). Berlin wurde für kurze Zeit ihr Zentrum, aber die Mehrheit, 500.000, wanderte weiter, besonders nach Paris. Denn während die Weimarer Regierung eine äußerst restriktive Zuwanderungs- und Eingliederungspolitik betrieb, verfolgte die Französische eine offene, um kriegsbedingte Bevölkerungsverluste auszugleichen. Diese Menschen waren Asylsuchende.

In den 1920er Jahren verließen weitere Zehntausende „Deutschstämmige“, darunter viele Mennoniten, die Sowjetunion, Polen, Ungarn und die Balkanstaaten. Die deutsche Regierung verhängte 1930 einen Einwanderungsstopp für „Russlanddeutsche“ oder schleuste sie als Transitwanderer nach Kanada und Südamerika durch. Diejenigen, die in den neuen Staaten verblieben, wurden reichsseitig in „Volksdeutsche“ umbenannt, um Ansprüche auf „Volksboden“ zu untermauern. Aus dem Reich Abwandernde wählten viele Ziele: junge Frauen als Dienstmädchen die Niederlande; vermutlich einige zehntausend Männer zwischen 1928 und 1931 die Sowjetunion, die international Fachkräfte für die Industrialisierung anwarb; etwa 6.000 bis 8.000 arbeitslose Ruhrbergleute nach 1929 das Donezk-Becken. In Weimar-Deutschland nahm Ausländerbeschäftigung im Vergleich zur Vorkriegszeit stark ab. Auch die Gewerkschaften verfolgten eine Arbeitsmarktpolitik mit Inländerprimat. Dies betraf auch die „Deutschstämmigen“: rechtliche Gleichstellung der „Volksdeutschen fremder Staatsangehörigkeit“ mit „Reichsdeutschen“ war nicht erwünscht.

Unter dem deutschen Faschismus

flohen Menschen jüdischen Glaubens und politisch Verfolgte

wurde Fremdarbeiter/innen-Import als rassisch unerwünscht angesehen, aber mit Beginn der Aufrüstung gefördert

wurden nach 1939 Millionen aus den besetzten Gebieten in Arbeitslager deportiert und Frauen und Schülerinnen zum Dienst als Hausmädchen

wurden Juden, Widerstandskämpfer/innen, Sinti und Roma, Homosexuelle und „lebensunwerte“ Menschen in Vernichtungslager deportiert

wurden in „Umsiedlungsprogrammen“ Menschen slawischer Kultur ostwärts deportiert, um Raum zu schaffen für aus weiter östlich gelegenen Siedlungen abtransportierte „deutsche“ Volksgenossen.

Hinzu kamen kriegsbedingte Flüchtlingsströme von Zig-millionen vor den faschistischen Armeen an Ost-, West- und afrikanischen Fronten.

Seit Teilung des deutschsprachigen Zentraleuropas in die Hohenzollern- und Habsburg-Imperien waren Auswanderungen separat verlaufen. Aber der „Anschluss“ Österreichs 1938 erzwang erneute Gemeinsamkeit. Unter Druck und Zwang verließen etwa eine halbe Million Deutsche und 150.000 Österreicher bis 1939 das dritte Deutsche Reich, darunter rund 280.000 deutsche und 130.000 österreichische Juden. Die Angliederung des Saarlandes 1935 und die Annexion der Sudetengebiete 1938 lösten die Flucht demokratisch Gesinnter aus. Doch Flüchtlinge waren nirgendwo willkommen und die Flüchtlingskonferenz in Evian 1938 forderte nur „geordnete“ Flucht mit dem Recht, Besitz zu transferieren. Die Flüchtlinge generierenden faschistischen Staaten waren von einem Ring demokratischer, Flüchtlinge abweisender Staaten umgeben (Michael Marrus).

Die deutsche wie auch die österreichische Gesellschaft verlor, wie Russland nach 1917, einen großen Teil der intellektuell-künstlerisch-wissenschaftlichen und demokratisch-politischen Eliten. Nur wenige wandten sich der UdSSR zu, die stalinistischen Verfolgungen von „Abweichlern“ waren bekannt; Frankreich, die Schweiz, Schweden und die Tschechoslowakei, Großbritannien und Nordamerika wurden die wichtigsten Ziele. Exilpolitiker hofften von dort für ein demokratisches Deutschland wirken zu können, flüchtende Kulturschaffende konnten in der Fremde keine Ausdrucksmöglichkeiten finden. Juden flohen durch die Sowjetunion bis nach Harbin und Shanghai, andere ins arabisch besiedelte Palästina unter britischem Mandat. Großbritannien nahm nach 1938 9.400 unbegleitete Kinder von Verfolgten auf; Kanada verweigerte jegliche Aufnahme; in die USA konnten laut der Quote für Deutsche rund 120.000 Menschen einreisen; Kuba und südamerikanische Staaten boten Zuflucht. Mit dem Vormarsch der faschistischen Armeen begann der Abtransport in die industriell organisierten Vernichtungslager mit minutiös geplanten Zugfolgen der Reichsbahn.

Unter der Fremdarbeiter/innen-feindlichen Politik Weimars sank deren Zahl auf etwa 100.000, aber im Zuge der Aufrüstung begann erneut die Anwerbung und 1938/39 wurden 436.000 gezählt. Kriegsziel war wie im Ersten Weltkrieg die Eroberung eines östlichen Reservoirs von als rassisch minderwertig bezeichneten Arbeitskräften und Besetzung von „Lebensraum“ für zwangsumgesiedelte deutsche bäuerliche Bevölkerungen. Nach der Besetzung Polens begannen die Deportationen von Menschen in Zwangsarbeitslager: Nach einem volkstümlichen deutschen Klischee rauben „Zigeuner“ Kinder; die arisch-deutschen Besatzer raubten Millionen Männer, Frauen und Kinder im Osten und Hunderttausende im Westen. Ab 1942 organisierte der „Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz“ den Menschenraub zentral. Die etwa 12 bis 12,5 Millionen Zivilarbeiter/innen und Kriegsgefangenen machten 1944 ein Viertel aller in der Wirtschaft Beschäftigten aus.

Parallel begannen die Verantwortlichen eine Volkstumspolitik, um „Fremdvölkische“ aus „Altreich“ und polnischen Besatzungsgebieten zu deportieren und, im Rahmen eines Abkommens mit der Sowjetunion, „im Volkstumskampf erprobte Siedler“ heim ins Große Reich zu importieren. Von letzteren kamen manche aus eigenem Willen, angezogen von Nazi-Propaganda und getrieben von Minderheitenpolitik und materiellem Elend in der Sowjetunion. Die Politik entleerte die gesamte Region vom Baltikum über Wolhynien bis nach Bessarabien und zur Dobrudscha von „Volksdeutschen“. Knapp eine Million erhielt den Besitz vertriebener und ermordeter Polen und Juden, bei Kriegsende befanden sich viele noch in den Lagern der Bevölkerungsplaner. Ab 1944 begannen diese vielfach verschobenen Menschen und langansässige „Deutschstämmige“ ihren Treck westwärts in Auffanglager. Die ostwärts vertriebenen Polen, 1945 erneut vertrieben, treckten westwärts, da ihr gesamter Staat westlich verschoben wurde.

Zum Zeitpunkt der Kapitulation am 8. Mai 1945 befanden sich in Deutschland in den vier Besatzungszonen 10-12 Millionen überlebende Zwangsarbeiter/innen und etwa 10 Millionen interne, aus den von Flächenbombardierungen betroffenen Städten „Evakuierte“ – wie „Umsiedlung“ und „Durchschleusung“ auch, ein weiterer bürokratischer Begriff für unfreiwillige Wanderung. Von letzteren lebten 1947 noch 4 Millionen in Notunterkünften. Außerhalb der Zonen befanden sich deutsche Kriegsgefangene. Die Zwangsarbeiter/innen, als „Displaced Persons“ bezeichnet, versuchten in ihre Geburtsländer, die „Heimat“, zurückzukehren, obwohl viele nicht wussten, ob die Familie überlebt hatte und ob ein „Zuhause“ noch existierte. Ein besonderes Problem war die unfreiwillige Repatriierung sowjetischer Kriegsgefangener, denen nach der Rückkehr ihr Überleben als Kollaboration ausgelegt und mit erneuter Lagerhaft oder Hinrichtung bestraft wurde.

Die International Refugee Organization, 1947 gegründet, sollte mit einem „resettlement program“ den Verbliebenen neue Perspektiven geben, doch trat das humanitäre Ziel schnell hinter den Arbeitsmarktinteressen der Aufnahmeländer zurück. Die USA, Kanada, Australien, Südafrika und einige südamerikanische Länder wählten nur gesunde, arbeitsfähige Männer und Frauen aus und verweigerten oft ihren Partnern und Kindern die Einreise. Die Ausgewählten erhielten bei der Ankunft Einwandererstatus und konnten, nach Ende ihrer Arbeitsverpflichtung, ein selbstbestimmtes Leben beginnen. Denjenigen, die kein Aufnahmeland fanden, zahlte Nachkriegsdeutschland weder Lohn für die Zwangsarbeit noch Entschädigung für ihr Leiden, sondern stempelte sie bürokratisch als „Heimatlose Ausländer“ oder „Staatenlose“.

Wie die DPs mussten auch die deutschen Kriegsgefangenen repatriiert werden. Die Sowjetunion, Frankreich und Belgien verweigerten einem Teil die Rückkehr und verpflichteten sie zu Zwangsarbeit für die Beseitigung der von ihrem faschistischen Staat verursachten Zerstörungen. Von den Männern im Westen, 1945 etwa 1,8 Millionen, entschied sich rund ein Fünftel zum Verbleib in Frankreich, als Rückkehr möglich wurde. Sie änderten die unfreiwillige Wanderung als Soldaten in eine freiwillige Entscheidung zur Auswanderung.

In den abgetrennten Ostprovinzen des Reichs lebten etwa 18 Millionen „Volks-“ und „Reichsdeutsche“. 14 Millionen flohen westwärts. Hundertausende wurden von der sowjetischen Regierung in Arbeitslager transportiert: „Verschleppung“ in dem politdeutschen Sprachgebrauch, der den Transport osteuropäischer Menschen durch Deutsche als „Arbeitseinsatz“ bezeichnet hatte. Die Eingliederung der „Flüchtlinge und Vertriebenen“, 1950 in Österreich 500.000 und in der BRD und DDR zusammen 12,5 Millionen, erfolgte nur zögerlich. Der Neubau von separaten Flüchtlingsvierteln führte zum Aufbau getrennter sozialer Netzwerke. Die „Umsiedler“ oder „Neusiedler“ (sowjetischer bzw. bundesdeutscher Sprachgebrauch) erhielten Staatsbürgerschaft und politische Rechte – im Gegensatz zur Ausgliederung der „Heimatlosen Ausländer“. Trotz der offensichtlichen Probleme wurde 1948/49 die „Flüchtlingsintegration“ in der BRD offiziell und medial als erfolgreich beendet bezeichnet. In der sowjetisch besetzten Zone (SBZ, dann DDR) wurde Eingliederung durch Arbeitskräftelenkung, das heißt Zuweisung von Arbeitsplätzen, angestrebt.

Neben diesen innerdeutschen und -europäischen Migrationen versuchten viele Nachkriegsdeutsche, selbst displaced persons, durch Kontaktaufnahme mit Familien und Freunden in die USA und nach Kanada auszuwandern. Dies war doppelt schwierig. Erstens hatte ihr vorangehendes, faschistisches Regime sie weltweit zu „unerwünschten Ausländern“ werden lassen und Deutschen war bis 1948 unter der Zuweisung kollektiver Verantwortung für Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust die Auswanderung verboten. Zweitens konstruierte die westdeutsche Nachkriegspolitik eine zum kollektiven Wiederaufbau verpflichtete „Schicksalsgemeinschaft“ und führte – wie im 19. Jahrhundert – ein Genehmigungsverfahren für Auswanderung ein, um Auswanderung arbeitsfähiger Männer zu verhindern und um ledige und verwitwete Frauen sowie aus dem Osten geflüchtete Landwirte loszuwerden: weder „Volks-“ noch „Schicksalsgemeinschaft“ waren umfassend.

In den Nachkriegsjahren bis 1955 änderte sich deutsches, europäisches und atlantisches Migrationsverhalten grundlegend. Mehr als 180.000 Deutsche wanderten innerhalb Europas aus, mit Frankreich und Großbritannien als bevorzugten Zielen, 780.000 wählten überseeische Staaten, 50 % von ihnen die USA, 40 % Kanada, 10 % Australien (Daten von 1961). De facto endete die Auswanderung 1955, da Wiederaufbau und „Wirtschaftswunder“ – dank amerikanischer Kredite und Prioritäten des Kalten Krieges – Lebensperspektiven in (West-) Deutschland boten. Gleichzeitig wanderten – unerlaubt – bis 1961 (Mauerbau) Migrant/innen aus der SBZ/DDR in die BRD. Dies wurde im „freien Westen“ als „Abstimmung mit den Füßen“ angesehen. Viele waren Wirtschaftsmigrant/innen, denn während die Menschen der Westzonen massive amerikanische Marshall-Plan-Kredite erhielten, mussten die Menschen der Ostzone durch Reparationen einen (kleinen) Teil der Schäden, welche die Wehrmacht in der Sowjetunion angerichtet hatte, abarbeiten.

Wirtschaftsplaner erkannten schon um 1950, dass angesichts des Wachstums das „Arbeitskräftereservoir“ ausgeschöpft werden würde. Ihre Vorstellungen basierten auf Geschlechterdiskriminierung: deutsche Frauen sollten sich um Kinder, Küche und Ehemänner kümmern, ausländische Männer sollten ohne Familie auf Zeit in den westdeutschen Arbeitsmarkt transportiert werden. 1955 wurde die BRD erneut zum Arbeitskräfteeinfuhrland, die italienische Regierung wollte Arbeitskräfte exportieren, ein Entsendevertrag – nicht etwa Migrationsabkommen – wurde unterzeichnet.

II. Migrationen 1955-2018: Arbeitende Gäste, unwillkommene Flüchtlinge und das Ende der Migration

Deniz Göktürk

Warum Migration?

Warum präsentiert das Deutsche Historische Institut auf der Webseite German History Intersections eine kuratierte Auswahl von Dokumenten zum Thema „Migration“, gerahmt in einem thematischen Triptychon mit „Deutschsein“ und „Wissen und Bildung“, neben einer eher traditionellen chronologischen Darstellung der deutschen Geschichte in Epochen? Wollen wir damit andeuten, dass es kein Deutschsein ohne Wissen über Migration geben kann? Oder vielleicht, dass es keine nationalgeschichtliche Bildung ohne Migration von Wissen geben kann? Soll die Webseite der Welt demonstrieren, dass auch Deutschland eine „Nation der Einwanderer“ ist, während die Regierung der Vereinigten Staaten unter Donald J. Trump beschloss, auf diese Selbstbezeichnung zu verzichten? Offensichtlich ist die nationale Geschichtsschreibung als vereinheitlichendes Narrativ kollektiver Legitimation in einer zunehmend vernetzten Welt revisionsbedürftig. Migration kann nicht als separater Prozess betrachtet werden, sondern muss als integraler Bestandteil in Erzählungen über nationale und globale Geschichte Eingang finden.

Die Dokumente in dieser Sammlung sollen blinde Flecken in der herkömmlichen Geschichtsschreibung beleuchten und daran erinnern, dass Migration eine wesentliche Rolle im Entstehen der Nation spielt. Die Diskussion sollte jedoch nicht damit enden, nur die Vielfalt abseits des Kerns der deutschen Kultur vorzuführen. Lehrende und Lernende, die dieses Material verwenden, müssen es mit kritischen Augen betrachten, ihre eigenen Verbindungen und Vergleiche ziehen und Fragen über die Art und Weise stellen, wie Migration von staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen und Akteuren gerahmt, inszeniert und dargestellt wird. In welche Wechselbeziehungen mit sozialen, kulturellen und rechtlichen Rahmen treten Migranten/innen? Welche Machtverhältnisse sind bei der Regulierung von Reisefreiheit, Aufenthalt und Niederlassung im Spiel? Sind wiederkehrende Muster in medialen Darstellungen von Migration zu erkennen? Welche Aspekte haben sich im Laufe der Zeit verändert, und welche sind gleichgeblieben? Welche Perspektiven und Werkzeuge erscheinen produktiv, um nationale Geschichte, kollektive Erinnerung und Zugehörigkeitsgefühle zu transnationalisieren?

Kontaktgeschichten

Historiker/innen haben dafür plädiert, dass verschiedene Arten des grenzüberschreitenden Verkehrs schon immer die Normalität von „Kulturen in Kontakt“ (siehe Teil I der Einleitung) waren und nicht ein Ausnahmezustand.[2] Wie die präsentierten Dokumente aus den vergangenen Jahrhunderten zeigen, waren Wanderbewegungen in, aus und durch den deutschsprachigen Raum im Lauf der Geschichte an der Tagesordnung. Menschen migrierten auf der Suche nach Lebensunterhalt und besseren Aussichten, sie folgten den Versprechungen der Industrialisierung und der kolonialen Expansion, sie flohen vor Kriegen und Naturkatastrophen, sie schufen sich ein neues Zuhause und beteiligten sich in ihrer neuen Umgebung wirtschaftlich, politisch und kulturell, während sie gleichzeitig familiäre und berufliche Bindungen zu ihren Ausgangsorten aufrechterhielten und manchmal an diese Orte zurückkehrten, die ihrerseits nicht unverändert geblieben sind.

Eine vergleichende longue-durée-Perspektive auf Migration und ihre Zentralität für nationale und regionale Geschichten ist ein wichtiges Korrektiv zur Kurzsichtigkeit hitziger politischer Debatten, die sich durch krisenhafte Ängste, Ressentiments gegen vermeintliche Sündenböcke und protektionistische Wünsche nach Abschottung speisen. Reines Deutschtum existierte schon immer nur in der Phantasie. Jede Vorstellung von der deutschen Gesellschaft und Kultur als einem zusammenhängenden Volk, das in einer stabilen Heimat gleichbleibende Traditionen pflegt, ist eher im Mythos als in der Realität verwurzelt.

Seit den ersten Verträgen zur Anwerbung von Arbeitskräften in den 1950er Jahren, gefolgt von verschiedenen Moratorien und wechselnden Regelungen zur Familienzusammenführung, ist die staatliche Politik hinsichtlich der Regulierung von Reisefreiheit, Migration und Aufenthalt in erster Linie beherrscht von wirtschaftlichem und politischem Kalkül. Öffentliche Meinung und Gesetzgebung entwickeln sich in Zyklen des Vergessens und reagieren auf die jeweils jüngste Krise als Ausnahmezustand, ohne Rücksicht auf frühere Interaktionsgeschichten.[3] Die Negation von dauerhaftem Bleiberecht für Migranten und die Fiktion einer ethnokulturellen Homogenität, die auf territorialer Zugehörigkeit beruht, ist ein Kernstück der Migrationspolitik geblieben und wurde in den Debatten über eine deutsche „Leitkultur” wiederbelebt.

Teilung im Kalten Krieg und europäische Integration

Mobilität in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war geprägt von der Teilung im Kalten Krieg und der europäischen Integration. Ab 1949 verfolgten die beiden deutschen Staaten eine unterschiedliche Politik in Bezug auf internationaler Zugehörigkeit, Reisefreiheit und Migration, die 1961 im Bau der Berliner Mauer gipfelte. Ob sie nun „Gastarbeiter“ oder „sozialistische Freunde“ genannt wurden, beide Systeme stützten sich auf ausländische Arbeitskräfte, deren Aufenthalt temporär begrenzt sein sollte. Die Vereinigung und Konsolidierung von Ost- und West-Deutschland zu einem Nationalstaat im Jahr 1990 beseitigte die Diskrepanzen in Bezug auf Wohlstand, Infrastruktur und Mentalität nicht, insbesondere bei Einstellungen zu Migration. In der Phase der nationalen Konsolidierung, die auf den Fall der Mauer folgte, kam es zu einer rasanten Zunahme gewalttätiger rassistischer Anschläge in alten und neuen Bundesländern. Der Prozess der deutschen Einheit war indes nicht nur ein nationales Ereignis, sondern vollzog sich im supranationalen Rahmen der europäischen Integration nach dem Ende des Kalten Krieges.

Die 1957 mit den Römischen Verträgen ins Leben gerufene Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ebnete den Weg für eine größere Mobilität von Arbeitskräften und Waren. Seit 1995 regelt die Europäische Union den Reiseverkehr und die Migration im Schengen-Raum und konzentriert sich dabei auf die Sicherung ihrer Außengrenzen unter der Aufsicht der Frontex-Agentur. Während EU-Bürger trotz Pandemie-Beschränkungen im Allgemeinen grenzüberschreitende Mobilität innerhalb der Union genießen, unterliegen Nicht-EU-Bürger beschwerlichen Visaregelungen.

Umkämpfte Zuflucht

Die Flüchtlingskrise von 2015, die eine Million Flüchtlinge, hauptsächlich vor dem Bürgerkrieg in Syrien, nach Deutschland brachte, rückte Migration weltweit in den Fokus der Öffentlichkeit.[4]

Kontroversen über politisches Asyl für Flüchtlinge sind keineswegs neu. Sie haben sich in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg mehrmals wiederholt.[5] Der Paragraf im Grundgesetz der BRD, der Verfolgten aufgrund ihrer politischen Überzeugung Asyl gewährt, sollte einen Ausgleich für Gewalt, Vernichtung und Vertreibung durch das NS-Regime schaffen. Das Grundrecht auf Asyl und seine Anwendung waren jedoch seit 1949 umstritten. Der Paragraf wurde im Asylkompromiss von 1993 geändert: „Ausländer, die durch einen EU-Mitgliedstaat oder einen anderen sicheren Drittstaat reisen, können sich nicht auf das Recht auf Asyl berufen.“ (Art. 16a Abs. 2 GG). In seiner Rede zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland im Deutschen Bundestag am 23. Mai 2014 bezeichnete der Schriftsteller Navid Kermani diese „Verstümmelung“ der Verfassung faktisch als Abschaffung des Asylrechts: „Ausgerechnet das Grundgesetz, in dem Deutschland seine Offenheit auf ewig festgeschrieben zu haben schien, sperrt heute jene aus, die auf unsere Offenheit am dringlichsten angewiesen sind: die politisch Verfolgten.“

Mit dem Dublin-Verfahren wurde eine Datenbank zur Erfassung von Fingerabdrücken bei unerlaubter Einreise in die EU eingerichtet, um Asylsuchende in ihrem Ersteinreiseland zu halten und sie daran zu hindern, in die wohlhabenderen Mitgliedsstaaten weiterzureisen. Mit dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei von 2016 wurde die Einreise von Flüchtlingen in EU-Länder weiter unterbunden, vergleichbar mit der „Remain in Mexico“-Politik der US-Regierung. Die Auseinandersetzungen auf EU-Ebene über die Neuansiedlung von Flüchtlingen aus den südeuropäischen Grenzgebieten im Jahr 2020 zeigen die Sackgasse zwischen nationalen und supranationalen Interessen in der Asylpolitik.

In der gegenwärtigen Weltordnung hat sich die Diskussion über Migration daher auf Hindernisse und Inhaftierung verlagert. Mauern werden errichtet, und Barrieren werden nicht nur an den Landesgrenzen, sondern auch im Alltag allgegenwärtig geltend gemacht. Mit zunehmender Destabilisierung in weiten Teilen der Welt und wachsenden Reisebeschränkungen ist Migration zum politischen Dreh- und Angelpunkt sowohl für moderne Demokratien als auch rechtsextremen Nationalismus geworden.

Arbeitende Gäste

Die Auswahl der Dokumente zur Migration nach Deutschland umfasst die kulturellen Transformationen im Zuge der Anwerbung von „Gastarbeitern“ aus Südeuropa und Nordafrika, beginnend mit dem deutsch-italienischen bilateralen Anwerbeabkommen von 1955. Die politischen Debatten in dieser Zeit konzentrierten sich auf Fragen der Vorläufigkeit und Rückkehr im Gegensatz zu Ansiedlung und Integration. Der Nationalstaat spielt eine Schlüsselrolle als Regulator von Bürgerrechten und -leistungen. Die Bedürfnisse einer sich diversifizierenden Bevölkerung nach Arbeit, Wohnraum und Bildung zu befriedigen, stellt eine zentrale Herausforderung für moderne Gesellschaften dar. Diskriminierung aufgrund von wahrgenommenen Unterschieden ist nach wie vor eine Hauptursache für Ungerechtigkeit und Konflikte.

1973 lebten über 2,5 Millionen ausländische Arbeitskräfte in Westdeutschland. Etwa 300.000 Arbeiter aus der Türkei lebten seit mindestens vier Jahren im Land. Vor allem die letztgenannte Gruppe wurde in der Öffentlichkeit als sichtbar fremd wahrgenommen und ausgegrenzt. Am 26. März 1973 titelte das Wochenmagazin Der Spiegel: „Gettos in Deutschland: Eine Million Türken“ und druckte eine elfseitige Titelgeschichte „Die Türken kommen - rette sich, wer kann. [6]

Im August 1973 traten türkische Arbeiter im Kölner Ford-Werk in einen wilden Streik für gleichen Lohn. Ihre Forderungen stießen auf wenig Solidarität seitens der deutschen Kollegen. Nach einer wirtschaftlichen Rezession erklärte die Bundesregierung am 23. November 1973 den offiziellen Anwerbestopp. In der Folgezeit stieg die Zuwanderung aus der Türkei jedoch weiter an, bedingt durch Visa zur Familienzusammenführung.

Die Veröffentlichung von Aras Örens epischem Gedicht Was will Niyazi in der Naunystraße (1973) markierte einen Meilenstein in der Bewusstseinsbildung einer fortschrittlichen, linken deutschen Leserschaft, dass diese neue Bevölkerung aus Individuen bestand und nicht aus einer bedrohlichen, dunklen Horde, die in Zeitungsschlagzeilen beschworen wurde.[7] Ein weiterer Band von Ören, Deutschland, ein türkisches Märchen (1978), verdeutlicht die fiktionale Qualität nationaler Identifikationen und möglicher Perspektivenwechsel, die mit der Migration einhergehen.

R.W. Fassbinders klassisches Melodrama Angst essen Seele auf (1974) thematisiert solche Wahrnehmungsverschiebungen am Arbeitsplatz, zu Hause und in der Nachbarschaft. Eine genaue Lektüre der wiederkehrenden Treppenhausszenen im Film offenbart die heimtückische Macht des rassifizierenden, kolonialen und voyeuristischen Blicks – auf der Leinwand und hinter der Kamera – in den Begegnungen zwischen Einheimischen und Migranten.

Angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit und des öffentlichen Unmuts, auch unter gut situierten, gebildeten Bürgern, erließ die westdeutsche Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl 1983 ein neues Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern. Ungefähr 250.000 Arbeitsmigranten/innen gaben ihr Aufenthaltsrecht auf, „töteten ihren Pass“[8] und kehrten in ihre Herkunftsländer zurück. Trotz der Bemühungen der Regierung, die Arbeitsmigration als einen vorübergehenden Zustand zu definieren, haben sich viele Migranten/innen dauerhaft in Deutschland niedergelassen.

Der beschwerliche Weg zur Staatsbürgerschaft

Die USA und Deutschland haben eine unterschiedliche, teilweise miteinander verknüpfte Geschichte in Bezug auf Auswanderung und Einwanderung, die zu unterschiedlichen Gründungsmythen geführt hat. Während des 20. Jahrhunderts waren die Vereinigten Staaten als klassisches Einwanderungsland bekannt, das in Fabeln wie die „vom Tellerwäscher zum Millionär“ oder „vom Schmelztiegel zur Salatschüssel“ gefeiert wurde. Diese Gründungsmythen schlossen die Diskriminierung bestimmter Gruppen nicht aus, wie zum Beispiel durch den Chinese Exclusion Act (in Kraft bis 1965) oder das anhaltende Erbe der Sklaverei in rassistischer Diskriminierung durch Polizei-Gewalt, gegen die sich die Black-Lives-Matter-Proteste richten.

Im Gegensatz dazu brauchte Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg lange, um Wege zur Einbürgerung für seine Einwanderer zu schaffen. Es warb sogenannte „Gastarbeiter“ an und gewährte Flüchtlingen Asyl, leugnete aber offiziell, ein „Einwanderungsland“ zu sein. Im Großen und Ganzen basierte das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht auf Abstammung. „Aussiedler“ und „Spätaussiedler“, die aus osteuropäischen Staaten nach Deutschland kamen, erhielten beispielsweise die Staatsbürgerschaft, selbst wenn sie kein Deutsch sprachen, während Einwanderer/innen, die seit Jahrzehnten in Deutschland lebten und arbeiteten, und ihre im Land geborenen Kinder keinen automatischen Anspruch auf die Staatsbürgerschaft hatten.

Das neue Staatsangehörigkeitsgesetz, das im Jahr 2000 in Kraft trat, ebnete den Weg zur bedingten Einbürgerung. Es gewährte Kindern von Ausländern, die in Deutschland geboren wurden, die Staatsbürgerschaft, sofern ein Elternteil seit mindestens acht Jahren eine gültige Aufenthaltsgenehmigung besaß. Kinder konnten zusätzlich auch die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern behalten, mussten sich aber bis zum Alter von 23 Jahren für eine Staatsangehörigkeit entscheiden. Im Jahr 2005 trat das neue Zuwanderungsgesetz in Kraft, das Deutschland offiziell als „Einwanderungsland“ anerkennt. Im selben Jahr begann die Volkszählung, den „Migrationshintergrund“ zu erfassen. Im Jahr 2015 liegt der Anteil der im Ausland geborenen Einwohner in Deutschland und den USA auf einem ähnlichen Niveau (in beiden Ländern über 14 % der Bevölkerung). Die Gesetze zu Aufenthalt, Staatsbürgerschaft und Einbürgerung sind vergleichbar – eine Mischung aus Abstammungsprinzip (ius sanguinis) und Territorialprinzip (ius soli). Die Studien des Meinungsforschungsinstituts Ipsos „The Perils of Perception“ zeigen jedoch, dass die Mehrheitsbevölkerung in Deutschland wie in vielen anderen Ländern dazu neigt, die Zahl der Einwanderer im Land zu überschätzen. 2018 schätzten die Befragten in 37 Ländern, dass der Bevölkerungsanteil Eingewanderter bei 28% läge, während in Wirklichkeit die Zahl im Durchschnitt bei 12% lag. Auch der Anteil der muslimischen Bevölkerung wurde in fast allen Ländern stark überschätzt.[9] Diese Zahlen machen deutlich, dass über gesetzliche Regelungen zu Einreise, Aufenthalt und Staatsangehörigkeit hinaus Fremd- und Feindbilder eine wichtige Rolle in der Abgrenzung nationaler Zugehörigkeit spielen.

Zwei prominente Ausstellungen zeigten 2005 Deutschland als Einwanderungsland: Projekt Migration, gemeinsam kuratiert von einem Forschungsteam und dem Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V (DOMiD) im Kölnischen Kunstverein und anderen Standorten in Köln, und Zuwanderungsland Deutschland: Migrationen 1500-2000 im Deutschen Historischen Museum in Berlin.[10] Die unterschiedliche Herangehensweise der beiden Ausstellungen zeigt die Unzulänglichkeiten einer ausschließlich historischen Betrachtung von Migration als Einwanderungsgeschichte. Die Kölner Ausstellung, die von Fragen der kritischen Migrationsforschung nach Sichtbarkeit und Medialisierung geprägt war, hinterfragte das offizielle Regime der Repräsentation und ermöglichte eine dynamischere Betrachtungserfahrung, indem sie mit audiovisuellen Medien, Alltagsobjekten und künstlerischen Interventionen vielfältige Archive in Szene setzte.

Eine postmigrantische Gesellschaft?

Im Zuge der Veröffentlichung von Thilo Sarrazins Bestseller Deutschland schafft sich ab (2010) erreichten die Debatten über die Risiken des Multikulturalismus ihren Höhepunkt. Der ehemalige Finanzsenator des Landes Berlin und ehemalige Vorstand der Deutschen Bundesbank löste eine breite nationale Kontroverse aus, indem er die deutsche Einwanderungspolitik der Nachkriegszeit anprangerte und argumentierte, dass eine sinkende Geburtenrate, eine wachsende ungebildete Unterschicht und die Zunahme überwiegend muslimischer, angeblich integrationsresistenter Einwanderer zum Untergang Deutschlands führten.

Am 16. Oktober 2010, wenige Tage vor dem 4. Integrationsgipfel in Berlin, sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Bundeskongress der Jugendorganisation der CDU (Deutschlandtag der Jungen Union): „Wir sind ein Land, das im übrigen Anfang der sechziger Jahre die Gastarbeiter nach Deutschland geholt hat. Und jetzt leben sie bei uns. Wir haben uns eine Weile lang in die Tasche gelogen. Wir haben gesagt, die werden schon nicht bleiben, irgendwann werden sie weg sein. Das ist nicht die Realität. Und natürlich war der Ansatz, zu sagen, jetzt machen wir mal Multikulti und leben so nebeneinander her und freuen uns übereinander – dieser Ansatz ist gescheitert, absolut gescheitert.“[11] Merkel forderte die Zuwanderer/innen auf, die Verfassung des Rechtsstaats zu respektieren, betonte aber auch, dass die muslimischen Zuwanderer/innen ein Teil Deutschlands geworden sind. Merkels Aussagen über das Scheitern des Multikulturalismus als Modell für das gesellschaftliche Zusammenleben wurden von Premierminister David Cameron auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2011 aufgegriffen. Wenige Tage später stimmte der französische Präsident Nicolas Sarkozy in den Chor ein und erklärte den Multikulturalismus zu einem gescheiterten Experiment. Der liberale nationalstaatliche Multikulturalismus wurde von rechts und links kritisiert, vor allem aufgrund des vermeintlichen Relativismus, der zu sogenannten Parallelgesellschaften und einer Kulturalisierung sozialer Ungleichheiten geführt habe. Im Brennpunkt der Diskussion um die Risiken von Parallelgesellschaften stand die Debatte um Ehrenmorde; ein besonders prominenter Fall der Mord an Hatun Sürücü durch ihren Bruder in Berlin am 7. Februar 2005.[12] Dabei wird häufig vergessen, dass Gewalt gegen Frauen keineswegs nur in muslimischen Familien vorkommt.

Neuere kritische Interventionen konzentrieren sich neben der kulturellen Repräsentation auf Fragen der strukturellen Diskriminierung. 2006 trat das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz in Kraft und die Antidiskriminierungsstelle des Bundes wurde eingerichtet. Diskriminierung in Alltagssituationen, bei der Arbeit, Wohnungssuche, auf dem Amt oder in der Schule, ist damit längst nicht aus der Welt geschafft.[13]

Der Begriff „postmigrantisch“ entstand in den 1990er Jahren in performativen Interventionen der transethnischen Kanak-Attak-Bewegung. In jüngerer Zeit haben Shermin Langhoff und ihr Team am Ballhaus Naunynstraße und später am Gorki Theater in Berlin „postmigrantisches Theater“ eingesetzt, um Ausgrenzung mit einem Beharren auf unhinterfragter Zugehörigkeit zu begegnen, insbesondere seitens der Nachkommen von in Deutschland geborenen Migranten.[14]

Das Standbild aus Tschick, Fatih Akıns filmischer Adaption von Wolfgang Herrndorfs Jugendroman über zwei Teenager vom Berliner Stadtrand auf einer Reise ins Ungewisse, ist emblematisch für die Darstellung von verunsichernden binären Oppositionen zwischen „Einheimischen“ und „Migranten“. Kritische Migrationsstudien und Diskussionen über „postmigrantische“ Gesellschaften zielen darauf ab, solche Oppositionen in der politischen Debatte und öffentlichen Wahrnehmung zu destabilisieren. Wie die auf dieser Webseite präsentierte historische Perspektive demonstriert, sind solche Kategorisierungen je nach Zeit und Ort einem Wandel unterworfen.

Während Nachkommen von Zuwanderern ihre Ansprüche in einer postmigrantischen Gesellschaft abstecken und Fragen nach ihrer Herkunft zurückweisen, ertrinken andere auf dem Meer oder werden in Internierungslagern gefangen gehalten. Falls wir derzeit tatsächlich das Ende der Migration, wie wir sie kannten, erleben, dann erinnern uns die wachsenden Ungleichheiten in Bezug auf Reisefreiheit, Zugang und Teilhabe daran, dass die Diskussion über Migration noch lange nicht zu Ende ist. Da sowohl die EU als auch einzelne Nationalstaaten erneut Maßnahmen zur Durchsetzung von Grenzen und zur Unterscheidung zwischen „echten“ Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten ergreifen, ist es umso wichtiger, zugewiesene und angenommene Identitäten im Hinblick auf Vielfalt, Rassismus und Diskriminierung immer wieder neu zu überdenken.

Deutschland im Transit dokumentieren

Die auf dieser Webseite präsentierte Sammlung von Dokumenten zur Migration nach 1955 ist das Ergebnis einer fast zwanzigjährigen Arbeit im Rahmen des Multicultural Germany Projects“, das von Anton Kaes und Deniz Göktürk am Institut für Germanistik der University of California, Berkeley, initiiert wurde. Unser anfängliches Team begann im Jahr 2001, gemeinsam ein Archiv des „multikulturellen Deutschlands“ aufzubauen. Zu dieser Zeit waren die Vereinigten Staaten immer noch als die paradigmatische „Nation der Einwanderer“ bekannt, und Deutschland näherte sich nur zögernd der offiziellen Anerkennung, de facto ein Einwanderungsland zu sein. Während unsere Sammlung wuchs und als Buch veröffentlicht wurde, zunächst 2007 mit der Präsentation der Dokumente in englischer Übersetzung als Germany in Transit, dann 2011 mit der Rückführung des Archivs nach Deutschland als Transit Deutschland, konnte noch niemand den weiteren Verlauf der Geschichte absehen.

Heute sind die Vereinigten Staaten zu einer Abschiebenation geworden, die in Fragen von Einwanderung, ethnischer Herkunft und Rassenzugehörigkeit tief gespalten ist.[15] In Deutschland wurde die 2013 gegründete rechtsextreme Partei Alternative für Deutschland (AfD) mit ihrer einwanderungsfeindlichen Agenda bei der Wahl 2017 mit 12,6 % der Stimmen zur drittgrößten Fraktion im Bundestag. Die Verunglimpfung von Migranten und Minderheiten vor dem Hintergrund der Grenzsicherung und der nationalen Einheit sind in den letzten Jahren sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten zu zentralen Themen der politischen Agitation geworden.

Germany in Transit und Transit Deutschland präsentierten eine vielstimmige Geschichte in Dokumenten und zeigten, dass Deutschland selbst ebenso im Wandel war wie seine Migranten. Wir haben die Dokumentationsarbeit über die beiden Bücher hinaus fortgesetzt, indem wir jährlich eine Chronologie in deutscher und englischer Sprache unter https://mgp.berkeley.edu/chronology/ veröffentlichen. Eine Auswahl aus beiden Bänden und die Online-Chronologie wurde auf der Webseite German History Intersections wiederverwendet, aktualisiert und um weitere Dokumente und Bilder erweitert. Wir ermutigen die Nutzer/innen, die Webseite zu besuchen, um weitere Informationen zu erhalten und an der Erweiterung des Archivs mitzuarbeiten.

Leseanleitung: Migrationsgeschichte ist Mediengeschichte

Diese Online-Sammlung bietet eine offene Geschichte in Dokumenten, Geschichten statt einer vereinheitlichenden Geschichte. Durch die Montage können juristische und politische Dokumente in kontrastierende Konstellationen mit Stimmen aus Literatur und Populärkultur treten. Im Sinne einer digitalen Präsentation (einer Auswahl aus den Archiven) können die Nutzer/innen durch das Material navigieren, indem sie nach Tags suchen und die Dokumente nach ihren eigenen Interessen zusammenstellen. Wir laden die Nutzer/innen ein, Migrationsgeschichte als Mediengeschichte zu begreifen, immer verbunden mit der Frage, wo, wann und warum bestimmte Handlungen in analogen und digitalen Rahmen sichtbar werden, wie sie zirkulieren und wie sich das Publikum mit ihnen auseinandersetzt.

Die größten Herausforderungen bei der Übertragung von Material aus den Printmedien in das digitale Medium bestehen darin, die lineare Logik der chronologischen Geschichtsschreibung zu überwinden und ein Konzept von räumlichen, zeitlichen und thematischen Verbindungen anzustreben. Das digitale Medium hat das Potenzial, Migration und Identitätsbildung als offene, multidirektionale und relationale Prozesse zu visualisieren. Design ist wichtig, um neue mentale Landkarten zu schaffen. In dem Bestreben, chronologische Listen durch nicht-lineare Präsentationen zu ergänzen, haben wir uns zum Ziel gesetzt, verschiedene Einstiegspunkte und Querverbindungen zu ermöglichen, die unvorhergesehene Verbindungen eröffnen und Muster, Korrespondenzen und zirkuläre Wiederholungen in der Rhetorik über Migration aufdecken. Der Aufbau einer multimedialen Plattform, die Wissensproduktionen durch kreatives Experimentieren ermöglicht, kann nur ein „work in progress“ sein. Urheberrechtsbeschränkungen für Video- und Audioclips und die Kurzlebigkeit von vergänglichen Archiven auf YouTube und anderen Plattformen stellen ernsthafte Einschränkungen dar. Die Visualisierung von Verknüpfungen jenseits bereits etablierter Gedankengänge und historischer Narrative bleibt eine anregende Herausforderung für eine Forschungsidee, die methodologischen Nationalismus überwinden will.

Die Wiederbelebung der ikonischen Figur des millionsten Gastarbeiters Armando Rodrigues de Sá in Almanya – Willkommen in Deutschland (2011), einer Drei-Generationen-Filmkomödie, die im Jahr des 50-jährigen Jubiläums des Anwerbeabkommens mit der Türkei in die deutschen Kinos kam, ist paradigmatisch für eine dynamische Auseinandersetzung mit Archiven im Transit. Die Schwestern Yasemin und Nesrin Şamdereli kontrapunktieren die offiziellen Feierlichkeiten zur Ankunft des Millionsten mit dem Familiengedächtnis und erzählen die Geschichte ihres Großvaters.

Die Nutzer/innen dieser Webseite werden die hier präsentierten Materialien auf unterschiedliche Weise nutzen – zum Lehren, Lernen oder Forschen. Wir möchten die nicht-sequentielle Lektüre der hier präsentierten Dokumente als Einladung zur Teilnahme am fortlaufenden Archiv der Migration verstanden sehen und nach Resonanzen und Verbindungen über die gesamte Webseite German History Intersections und darüber hinaus suchen: in Nachrichtenmedien, staatlichen und nicht-staatlichen Webseiten, Literatur, Kino, Populärkultur. Weder Migration noch nationale Identifikation noch das auf German History Intersections präsentierte Archiv können als abgeschlossene Erzählung gerahmt werden, sondern müssen eine Untersuchung und Verhandlung mit offenem Ende bleiben.

Weiterführende Webseiten

Projekt Multikulturelles Deutschland – Chronologie
https://mgp.berkeley.edu/chronology/

Dokumentationszentrum und Museum für Migration in Deutschland – DOMiD
https://domid.org/en/

With Wings and Roots
https://withwingsandroots.org/

Anmerkungen

[1] Dieser Überblick beruht auf Dirk Hoerder, Cultures in Contact: World Migrations in the Second Millennium (Durham, N.C.: Duke Univ. Press, 2002), und Hoerder, Geschichte der deutschen Migration vom Mittelalter bis heute (München: Beck, 2010).
[2] Dirk Hoerder, Cultures in Contact: Weltwanderungen im zweiten Jahrtausend (Durham und London: Duke University Press, 2002).
[3] Für eine Dokumentation der zyklisch wiederkehrenden Argumente in diesen Debatten siehe: Deniz Göktürk, David Gramling, Anton Kaes, Hrsg., Germany in Transit: Nation and Migration, 1955-2005 (Berkeley: University of California Press, 2007); Deniz Göktürk, David Gramling, Anton Kaes und Andreas Langenohl, Hrsg., Transit Deutschland: Debatten zu Nation und Migration (Konstanz: Konstanz University Press, 2011).
[4] Für eine detaillierte Chronologie siehe: https://mgp.berkeley.edu/chronology/2015-2/2015-the-refugee-crisis-2/
Der Treck über den Balkan ist in Ai Weiweis Film Human Flow (2017) dokumentiert.
[5] See Patrice G. Poutrus, Umkämpftes Asyl. Vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart (Bonn: Links Verlag, 2020).
[7] Rita Chin, The Guest Worker Question in Postwar Germany (Cambridge/New York: Cambridge University Press, 2009).
[8] Barbara Wolbert, Der getötete Pass. Rückkehr in die Türkei (Berlin: Akademie-Verlag, 1995).
[10] Für beide Ausstellungen wurden Kataloge veröffentlicht: Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500-2005, Hrsg. Rosmarie Beier-de Haan für das Deutsche Historische Museum Berlin (Wolfratshausen: Edition Minerva, 2005); Projekt Migration, Hrsg. Kölnischer Kunstverein, Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V. (DOMiD), Institut für Kulturanthropologie der Universität Frankfurt/Main, Institut für Theorie der Gestaltung und Kunst HGK Zürich (Köln: DuMont Verlag, 2005).
[14] Siehe auch die dreiteilige Studie Deutschland postmigrantisch, von Naika Foroutan und ihrem Team an der Humboldt-Universität zu Berlin 2014–2016 veröffentlicht : <https://www.projekte.hu-berlin.de/de/junited/deutschland-postmigrantisch-1/>, <https://www.projekte.hu-berlin.de/de/junited/deutschland-postmigrantisch-2-pdf>, und <https://www.stiftung-mercator.de/media/downloads/3_Publikationen/Deutschland_Postmigrantisch_3__Juni_2016.pdf>.
[15] Adam Goodman, The Deportation Machine. America's Long History of Expelling Immigrants (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2020).